Die Stadt kochte. Den Karl-Marx-Platz durchschnitt ein frisch gestrichener Metallzaun. Wer ihn berührte, wer an ihn gedrückt wurde, war mit Flecken rostroter Ölfarbe markiert. Dahinter liefen Polizisten mit Hunden. Lange Bohrer, wie man sie aus Steinbrüchen kennt, trieben Sprenglöcher ins Mauerwerk. Davor ballte sich Bevölkerung zusammen, immer wieder auf tarngrüne Polizeilaster verladen und im Präsidium in Schnellverfahren zu irgendwas verurteilt. Von den Hochhäusern hielten Kameras die Gesichter von Empörten fest.
Das war im Mai 68 in Leipzig. Vor 40 Jahren wurde dort die unversehrte gotische Universitätskirche gesprengt. Martin Luther, Bach und Max Reger hatten darin gewirkt, um nur einige zu nennen. Gegenwärtig entsteht an dieser Stelle ein umstrittener Nachbau. Und heute wurde im Rathaus der Stadt eine Ausstellung mit Zeitzeugen eröffnet, die dieses traumatische Ereignis zurückruft. Walter Ulbricht persönlich hatte die Sprengung durchgedrückt. Die von Katholiken und Protestanten gemeinsam genutzte Kirche war ein geistiger Mittelpunkt der Stadt, Konzertraum und auch der Ort hochbrisanter Predigten gewesen. Es war ja keineswegs so, dass dem Regime die Sensibilität für den Wert des Zerstörten gefehlt hätte. Die Kirche wurde gesprengt, weil sie von besonderem Wert war und Magnet einer buntgemischten Subkultur.
Zu den Seltsamkeiten von Diktaturen gehört die neurotische Angst vor dem offenen Wort. Und so ging es auch in der damals streng verordneten Sprachregelung nur um „das Abtragen von Altbausubstanz“, um Platz zu schaffen für einen funktionalen Neubau der Universität. Die Kirche wurde in den Medien überhaupt nicht erwähnt. Doch die politische Situation war prekär, der Prager Frühling in aller Munde. Die 68er Revolten in Paris, Westberlin und anderswo faszinierten und verstörten zugleich. Und im gequälten China stieg das Fieber der Kulturrevolution und es schien bis ins Ostberliner Politbüro auszustrahlen.
Die politische Vernunft, die seit Jahren gegen Flugblätter und jedwede Romantik von Resistance gesprochen hatte – dass man der Stasi damit nur nutze, ihr die Rechtfertigung liefere für die Wucherung des Überwachungsapparates – hier galt sie nicht mehr. Die Kirchensprengung war ein im Osteuropa der Nachkriegszeit singulärer Akt kultureller Barbarei. Die Partei hatte Grenzen überschritten. Sie hatte neue Räume totalitärer Machtausübung getestet und sollte erfahren, dass sie damit auch Reaktionen hervorrief, mit denen sie es bislang nicht zu tun hatte. Ein spektakulärer Protest sollte Dispute in der Führungsclique über die Vernunft solchen Vorgehens auslösen.
Zufall und Dummheit wollten es, dass die Kirche just zwei Wochen vor dem Internationalen Bachwettbewerb gesprengt wurde, zu dem Leipzig einlud und dessen sich der prestigesüchtige Staat gern annahm. Ich kaufte in einem Fachgeschäft für Fahnen das größte gelbe Tuch. Bemalt wurde es von Rudolf Treumann, Kollege an meinem Akademie-Institut in Potsdam. Mein Studienfreund Harald Fritzsch konstruierte den Zeitauslöser. Beide sind heute Professoren in München. Am Morgen des Abschlusskonzertes fuhr ich zur Kongresshalle. Auf der Bühne waren nicht wenige Arbeitskräfte zugange. In aller Offenheit kletterte ich die Feuerleiter hoch und verknotete unsere Konstruktion. Bei jeder Bewegung rieselte dick der Dreck herunter. Die ganze Dekoration geriet in Schwebungen. Schweißüberströmt und verdreckt eilte ich zwischen den verblüfften Bühnenarbeitern hindurch nach draußen.
Kurz vor acht Uhr abends begann der Saal zu toben. In der Nacht erging per Kurier Sofortmeldung nach Berlin, offenbar an Minister Mielke. Daraus sei hier zitiert:
GEGNERSCHE TÄTIGKEIT: 19 Uhr 30 begann in Kongresshalle Abschlussveranstaltung und Preisträgerauszeichnung des Bachwettbewerbs…Gegen 20 Uhr entrollte aus Bühnendekoration Transparent aus gelbem Stoff mit Beschriftung „1968 – Kirchenkreuz – Umrisse ehemalige Universitätskirche – und in 17 cm großen Buchstaben „WIR FORDERN WIDERAUFBAU.“… und veranlasste Teil der Besucher zu längerem Applaudieren. … An Veranstaltung nahmen ca. 1800 Personen teil, darunter Minister für Kultur Gysi, Minister Gießmann….Vorkommnisse wurden unter anderem von japanischer Delegation gefilmt. Veranstaltung wurde durch Fernsehfunk aufgezeichnet. Täter gehören vermutlich reaktionären Kirchenkreisen an…“ Doch ich war und bin nicht einmal getauft. Unser Motiv war nicht religiös. Es war der Schock der Barbarei dieser Sprengung und die eitle Hoffnung, mit Protesten dieser Art einen Frühling wie in Prag auf den Weg zu bringen.
Wäre in Frankreich oder in Polen eine solche Kirche in der Zeit deutscher Besetzung gesprengt worden, weil sie Zentrum renitenten Geistes war, ihr Wiederaufbau nach dem Krieg wäre Konsens gewesen. Das Geld für eine Rekonstruktion in Leipzig war verfügbar. Jetzt entsteht ein Nachfolgebau, in Grundriss und Raumform der gesprengten Kirche ähnlich, doch durchtrennt von einer Glaswand, von der die Akustik zerstört wird, mit den alten Epitaphien, doch ohne die gerettete Kanzel und den Altar. Der Chor wird eher als Ausstellungsraum gestaltet. Halbe Pfeiler, die stalaktitenhaft von der Decke hängen, zitieren gewesene Gotik und reduzieren sie zugleich zum bloßen Designerelement. Denn der Rektor der Universität will eine Aula und auf keinen Fall einen Sakralraum. Das Wort „Universitätskirche“ wird heute von den Statthaltern der Zerstörung genauso gemieden wie 1968.Architekt van Egeraat erklärt, er habe die Silhouette der Kirche zum Leitmotiv der Planung gemacht. Doch Über dem Kirchengewölbe werden Räume für Informatiker und Rechenzentrum gebaut. Mit diesem Verschnitt von Architektur macht sich Leipzig zum Gespött des kulturellen Europas.
Christian Führer, der als Pfarrer mit seinen Friedensgebeten einst die Montagsdemos in Leipzig auf den Weg gebracht und entscheidenden Anteil am Sturz des Regimes hat, ruft jetzt zum Jahrestag der Sprengung zur Demonstration für die Universitätskirche. Zumindest Kanzel, Altar und Namen müssen erhalten bleiben. Diese Stadt mit der ihr notorisch innewohnenden Unruhe hat ein Recht auf eine Wiedererstehung dieses Symbols ihrer Identität und das in einer Form, die nicht zur Farce und Peinlichkeit geraten darf.
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