Gestern gedachten die Liberalen im Berliner Admiralspalast mit einem „Freiheitskongress“ des Mauerfalls vor 20 Jahren. (Joachim Gauck, über ein Jahrzehnt Verweser der Stasi-Akten, war zu hören und der Schriftsteller Reiner Kunze, einst als Dissident hochkarätige Hassfigur des Regimes.) „Vergesslichkeit vorzubeugen und zwischen Freiheit und Unfreiheit wieder klar unterscheiden zu können“, dazu wolle er einladen – so Ex-Parteichef Wolfgang Gerhardt. In der Tat ist ein kritischer Rückblick geboten, doch nicht nur auf die abgewrackte DDR mit all ihren Widerwärtigkeiten, sondern auch darauf, mit welcher politischen Stümperhaftigkeit das Potential an Hoffnungen verschlissen worden ist und der Elan des Aufbruchs gebrochen wurde. Längst ist die Euphorie verflogen. Doch die Ursache dafür ist kaum Vergesslichkeit, sondern Enttäuschung. Vor zwei Wochen hat eine Forsa-Umfrage Verheerendes erbracht. Nur 46 Prozent der Ostdeutschen urteilen, dass sich ihre Lebensverhältnisse seit dem Mauerfall verbessert haben. Und Zweidrittel sehen sich einer anderen Umfrage zufolge noch immer nicht als Bundesbürger.
Im politischen Briefwechsel der 60er und 80er Jahre zwischen SPD und SED drängten die Sozialdemokraten auf Bürgerrechte und politische Freiheit. Die Kommunisten hielten dagegen, Vorrang habe die Befreiung aus ökonomischer Ausbeutung, Von vornherein abwegig ist eine solche Sichtweise nicht. Nackte Not lässt Bürgerrechte oft zur Farce verkommen. „Wenn wir eine Wohnung hätten, wäre diese Wohnung unverletzlich“, so spottete einst Bertolt Brecht in der Weltwirtschaftskrise. Freilich wurden unter dem Vorwand, die Vision einer Befreiung von Armut und Ausbeutung im Zeitraffer zu verwirklichen, Terror und schrankenlose Unterdrückung praktiziert. Bekanntlich ging dann beides vor die Hunde, Menschenrechte und Freiheit und der Wohlstand auch. Als vor 20 Jahren die kommunistischen Kakokratien im Orkus der Geschichte verschwanden, erschien eine nostalgische Verklärung noch in dieser Generation als unvorstellbar.
Wenn Ostdeutsche das von ihnen gestürzte Regime rückblickend in milderem Licht sehen, dann, weil sie fundamentale Entwertungserlebnisse zu verkraften haben. Bei allem politischen Überdruss hatte man meist doch die Wahrnehmung, unter schwierigen Bedingungen Beachtliches zu leisten und für seine Arbeit geachtet zu werden. Dann erlebten allzu viele, wie mit der Industrie auch ihre berufliche Lebensleistung verschrottet wurde und ihnen für den ersehnten Neuanfang die Chance verwehrt blieb. Auch wenn der materielle Lebensstandard für die Meisten höher ist als zuvor, so lebt bekanntlich doch kein Mensch vom Brot allein.
Freiheit – das ist die Möglichkeit, seiner inneren Notwendigkeit folgen und sich verwirklichen zu können. Sie ist die Chance auf ein als sinnvoll empfundenes Leben. (Als ich selbst im Jahr 68 mit einem Faltboot über das Schwarze Meer in den Westen geflohen bin, dann ja nicht der Bananen, der besseren Klamotten und der schnittigen Autos wegen. Ich sehnte mich nach Arbeit, die ich als Herausforderung begreifen konnte.) Genau das war die große Hoffnung der Ostdeutschen nach Jahrzehnten gegängelter Stupidität. Jetzt wachsen Resignation und Verbitterung. Die DDR war schlimm. Doch es wurden dort auch alle diejenigen gebraucht, die heute keiner mehr zu brauchen scheint und die oft seit langem schon draußen vor sind. Nostalgisch zurückgeträumt wird ja auch nicht die reale DDR – die wäre ohnehin wirtschaftlich längst zusammengebrochen – sondern ein fiktiver Staat voller sozialer Behaglichkeit und mit einer milden Stasi.
Auch 20 Jahre nach dem Mauerfall kann von einer Aufholjagd keine Rede sein. Der Anteil des Ostens an Deutschlands Wirtschaftsleistung ist niedriger als vor einem Jahrzehnt. Vielfach wird ein Kapitalismus praktiziert, wie er zuvor im Nachkriegsdeutschland kaum zu erleben war. Rasch und hemmungslos mutiert manches Unternehmertum zu frühkapitalistischer Brutalität, wenn Staat und Gewerkschaften das nicht verhindern. Jeder zweite Job ist ohne Tarifvertrag, vielfach zu Löhnen, die vom Staat auf ein überlebensfähiges Niveau aufgestockt werden müssen. Jedes dritte Kind lebt in Armut. In Berlin wachsen schon 40 Prozent der Klein- und Vorschulkindern in Hartz-4-Haushalten auf.
Wohnungen gibt es in Ostdeutschland inzwischen zur Genüge. Denn im Jahrzehnt nach dem Mauerfall ist die Bevölkerung stärker noch geschrumpft als im Jahrzehnt vor dem Bau der Mauer. Wieder sind es vor allem die Jungen und Aktiven, die wegziehen, fehlender Lebenschancen wegen. Um ein Drittel wird bis 2030 die Zahl der Erwerbspersonen in den Neuen Ländern noch schrumpfen. Das zeigt der Deutschland-Report des Prognos-Instituts.
Ostdeutschland verarmt zusehends. Vor allem die mittleren Jahrgänge sind betroffen. Das meldete gestern das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung . Und es warnt im besonderen vor besorgniserregender Altersarmut. Seit fünf Jahren sind die ohnehin dürftigen Vermögen empfindlich geschrumpft. Hauptursache sei die hohe und langandauernde Arbeitslosigkeit. Denn Hartz-4 zwingt die Menschen, vor jeder Stütze erst Erspartes zu verbrauchen.
Freiheit und Eigenverantwortung dürfen nicht zum Synonym werden für soziale Kälte und Verantwortungslosigkeit und für wirtschaftliche Brutalität. Auf dem Freiheitskongress gestern in Berlin warnte Wolfgang Gerhardt vor einer Überdehnung der Freiheit im Namen der Freiheit. Worauf diese Worte zielten, blieb freilich unklar.
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