WDR Hörfunk 3
„Gute Arbeit für Ostdeutschland“ – unter diesem Slogan stand gestern in Berlin ein Forum der Sozialdemokraten. Die Kluft zur Realität könnte größer kaum sein. Sozialminister Olaf Scholz pries Industriecluster, die sich „überall“ entwickelt hätten, und verstrahlte gedämpfte Zuversicht. Vorbei sei die Zeit der Illusionen und auch die der apokalyptischen Schreckensszenarien. Das Letztere ist bezweifelbar. Die Neuen Länder sind zum Prüfstein geworden für das neoliberale Modell. Niedriglöhne, entmachtete Gewerkschaften, eine fast grenzenlose Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt – im Osten ist zu besichtigen, wohin dieser Weg führt. Seit einem Jahrzehnt hat sich die Diskrepanz zwischen den Löhnen in West und Ost nicht mehr vermindert. Die Ostlöhne sind im Gegenteil in nicht wenigen Bereichen geradezu abgestürzt, teils bis hinab in die Sittenwidrigkeit und bis unter die schiere Überlebensgrenze. Fast jeder Vierte verdient weniger als 7 € 50 pro Stunde. (( alternativ, falls Zeit: In England beziehen kaum zwei Prozent den gesetzlichen Mindestlohn von über 8 €. In den Neuen Ländern arbeitet fast schon jeder Vierte unterhalb der Grenze von 7 € 50, die als Mindestlohn gefordert und verweigert werden.))Dabei haben zwei Drittel dieser miserabel Entlohnten einen akademischen oder einen Berufsabschluss. Und drei bis vier Euro pro Stunde schließlich sind grundgesetzwidrig. Sie verletzen die Würde des Menschen. Der Staat stockt auf zu Hartz IV. Nur für die Hälfte der Jobs im Osten gibt es überhaupt noch Tarifverträge. Schier unbegrenzt ist die Flexibilität bei Arbeitszeit und beim Pendeln. Die Prekarisierung ist fast zum Normalfall geworden. Die Lohnnebenkosten sind niedriger noch als in Spanien.
Hier ist verwirklicht, was Wirtschaftsweise und talk-show-Ökonomen als Königsweg aus der Arbeitslosigkeit und als Durchbruch zu einem Wachstumsschub seit langem für Gesamtdeutschland fordern. Doch statt der verhießenen Aufholjagd ist der Osten seit der Jahrtausendwende noch weiter hinter den Westen zurückgefallen. Über tausend Milliarden Euro wurden seit der Wende in die Neuen Länder gepumpt. Aber die Wirtschaftskraft verharrt bei 60 Prozent des Westniveaus. Auch bei der Zahl der Jobs sind die Trends konträr. Gewiss, in den letzten zwei Jahren ging es auch im Osten bescheiden aufwärts. Doch der Jobverlust seit der Jahrtausendwende ist noch kaum abgemildert. Von den Geringqualifizierten ist jeder zweite arbeitslos. Da hält Deutschland insgesamt ohnehin einen traurigen Rekord in der Industriehemisphäre.
Niedrige Löhne – lange als der entscheidende Standortvorteil Ostdeutschlands gepriesen – haben sich als Desaster erwiesen. Gut Qualifizierte ziehen weg, an den Rhein und nach Bayern oder ins Ausland, vor allem Junge und vor allem Frauen. (Folglich fehlt es an Kindern und auf dem flachen Land schließen immer mehr Schulen.) Fachkräftemangel und Langzeitarbeitslosigkeit verstärken einander wechselseitig. Ein Ausweg aus dieser Sackgasse ist billig nicht zu haben. Man kann ohne Mauer kein Wohlstandsgefälle aufrechterhalten, das sich mit Mauer nicht hat stabilisieren lassen. Die Investitionen der Wirtschaft in Forschung und Entwicklung sind minimal. Kleine Firmen dominieren. Große nutzen den Osten weithin nur als verlängerte Werkbank. Regionen veröden und oft ist heute der Staat selbst Wegbereiter des Verfalls. Infrastruktur wird aufgeben. Man will sich auf Wachstumskerne konzentrieren.
Im großen Zukunftsatlas der Schweizer Prognos AG wurden die Chancen der 439 deutschen Landkreise und Städte sorgfältig kalkuliert. Brutal prallt uns aus dieser Karte die alte Zonengrenze entgegen. Fast alle Regionen mit hohen Risiken liegen östlich, alle Regionen mit hohen Chancen westlich der früheren Grenzlinie. Die einzigen Ausnahmen sind Dresden, Jena, Potsdam und Greifswald. Die Zahl der Erwerbspersonen wird bis 2030 um ein Drittel schrumpfen. Und aus den arbeitenden Armen werden arme Alte. Deutschlands Osten hat für uns den Wert eines abschreckenden Paradigmas. Sein Schicksal könnte uns davor bewahren, das gesamte Land den neoliberalen Rezepturen auszusetzen.
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