Es war mein erster freier Tag in der „freien Welt“, damals vor 40 Jahren. Vier Wochen zuvor war ich mit einem Freund im Faltboot übers Schwarze Meer in die Türkei geflohen. Dann wurden wir vier Wochen lang ausgequetscht, vom türkischen Militär, von der türkischen Polizei und dem Geheimdienst, dann in München vom Bundesnachrichtendienst, dann in Frankfurt und im Camp King in Oberursel vom CIA und dann im Notaufnahmelager Gießen. Dessen Chef stand, wie später rauskam, auf der Lohnliste der Stasi. Doch wir waren vorsichtig genug gewesen. Ende Juni hatten wir in der Leipziger Kongresshalle auf der Bühne per Zeitauslöser ein Protest-Transparent entrollt, vor den Augen von Ministern und Westpresse, gegen die gerade erfolgte Sprengung der unversehrten gotischen Universitätskirche im Stadtkern von Leipzig. Seitdem brannte uns der Boden unter den Füßen. Die Flucht war zwingend.
Am morgen des 21. August dann im Fernsehen die Schockmeldungen aus Prag. Wir bekamen Fahrkarten in ein „Regierungsflüchtlingslager für Spätaussiedler und Sowjetzonenflüchtlinge“ in Bayern. Doch in Frankfurt stiegen wir aus, kauften uns Zangen und Gummi und fertigten daraus Katapulte, um damit die Fenster der sowjetischen Militärmission einzuschießen. Doch der SDS, der Sozialistische Deutsche Studentenbund, war schon vor Ort – mit einem riesigen Transparent UdSSR, dabei die Buchstaben SS in Runenform. Das Gelände war von Studenten besetzt. Die Polizei beschränkte sich darauf, das Gebäude zu schützen. Wir verzichteten auf den Einsatz unserer Katapulte. Es hätte den dort ansonsten gewaltfreien Protest diskreditiert. Ich erlebte meine erste Megaphon-Diskussion. Der Einmarsch stabilisierte beide Systeme, im Osten wie im Westen. Darin waren wir uns rasch einig. Wie ein Flächenbrand hätte sich der Prager Frühling ausgebreitet. Ich war wie fast alle aus dem Leipziger Freundskreis in den Monaten zuvor nach Prag und Bratislava geradezu gewallfahrt, um das zu erleben – ein befreites feierndes Volk, einen repressionsfreien Sozialismus, mit allen Menschen- und Bürgerrechten. Wenn das hielt, wenn das funktionierte – das war klar – war nicht nur jedes Regime im Ostblock unhaltbar, sondern auch im Westen würde sich einiges ändern. Die Linke würde einen Zulauf erleben wie niemals zuvor.
„WER HAT UNS VERRATEN – ROTE BÜROKRATEN!“ war einer der damals skandierten Slogans. Spät in der Nacht dann wurde durchs Megaphon gefragt, ob jemand ein Quartier habe für die zwei Genossen aus Leipzig. Es war das erste Mal, dass ich als Genosse bezeichnet wurde, an diesem ersten freien Tag im Westen, und ich hatte ein freudiges und mulmiges Gefühl zugleich.
Zwei vom SDS nahmen uns mit. Und ich schlummerte unter einer großen Vietkong-Fahne, die jetzt über diesem Bett prangte und kurze Zeit vorher noch beim Bundeskongress des SDS auf der Bühne hing.
Am nächsten Tag in Stuttgart. Die Schwaben, geschäftsorientiert und mit beschränktem politischen Engagement, würde das Geschehen in Prag wenig berühren, so dachten wir. Doch auf der Schlossstraße kam uns eine riesige Demo entgegen, vorn wieder mit dem Transparent, UdSSR, die zwei S als Runenzeichen.
Dann in München, bei der Studentin, die zuvor mein Physik-Diplomzeugnis in den Westen geschmuggelt hatte. „Gleich kommen ein paar Freunde vom RCDS“, sagte sie, vom Ring Christlich-demokratischer Studenten. „Gib uns aus als Funktionäre vom Zentralrat der FDJ in Ostberlin“, bat ich. Wir rechtfertigten den Einmarsch mit der weidlich erfahrenen propagandistischen Rabulistik. Mühsam, höflich und genervt versuchten die christlichen Studenten dagegenzuhalten. Als ich schließlich erklärte, die Dubcek-Anhänger seien ja bekennende Faschisten, denn überall malten sie Hakenkreuze an sowjetische Panzer, da war es dann doch vorbei mit höflicher Selbstbeherrschung. Wir offenbarten uns als Flüchtlinge und erlösten den Abend. „War halt nur mal für Euch so ne Erfahrung mit Agitprop. Das liegt jetzt hinter uns“, sagten wir.
Noch über Monate zog sich dieser 21. August hin. Mühsam brachten die Invasoren das kleine Land unter Kontrolle. Letztlich wurde die tschechische Tragödie zum Paradigma, dass ein noch so ideenreicher und engagierter passiver Widerstand gegen Panzer chancenlos bleibt.
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