Die Liebe zerschellt.
Die Welt wird zu Geld.
Der Narr geht zugrund
mit Erde im Mund
Baldur von Rapa
Es gibt sie nicht. Es kann sie gar nicht geben. Wir kommen darauf zurück.
Es war eine wunderbare Zeit. Das Vertrauen in die Zukunft war stark und unerschütterbar. In seiner Rede an die Nation erklärte der Präsident an der Schwelle zum neuen Jahr: „Kein Congress der Vereinigten Staaten, der jemals zusammentrat, um die Lage der Nation zu beraten, sah erfreulichere Aussichten vor sich als sie heute erscheinen.“ Die Wirtschaft erfreute sich eines starken und inflationsfreien Wachstums. Dieses Wachstum wurde vorangetrieben von einem Schub von Innovationen. Es gab eine wahre Flut von Aktienemissionen. Mit zunehmend originellen Geschäftsideen gaben Newcomer-Firmen ihr Börsen-Debüt und warben erfolgreich um Kapital. Neue Dienstleistungsaktien trieben die Börse nach oben. Freilich waren solche Firmen vor allem aus dem Finanzsektor bisher wenig an der Börse gehandelt. Die Anleger wussten kaum, wie sie zu bewerten waren. Und es kamen die heute wieder hochbeliebten Investmentfonds auf und vermehrten sich wie Kaninchen. Sie waren vor allem auf kleine Leute ausgerichtet und wurden dankbar genutzt. Auch der Aktienkauf auf Kredit war en vogue. Nur 10 Prozent Eigenkapital mussten die Kunden aufbringen. Die gekauften Aktien wurden als Sicherheit hinterlegt.
Doch Ende Oktober war die Wallstreet um dreißig Prozent gefallen. Bis zum Tiefpunkt im Sommer 32 hatten die Aktien fast neun Zehntel ihres Wertes verloren. Nach dem Crash wurde ein Mann aus dem Hudson River gezogen mit neun Dollar Bargeld und einer Schuldforderung seines Maklers von 120 000 Dollar in der Tasche. Zwei Broker sprangen Hand in Hand vom Ritz Hotel in New York und es kursierte das Gerücht, man würde beim Buchen von Hotelzimmern gefragt, ob man es zum Schlafen oder zum Herunterspringen haben möchte. Die amerikanische Münze musste 112 Millionen Fünf-Cent-Stücke prägen, weil ziemlich viele Leute U-Bahn fahren mussten, die sich vorher im Cadillac vorwärtsbewegt hatten.
Der scheidende Präsident Coolidge erklärte ein halbes Jahr vorm Crash, die Aktien seien „bei den aktuellen Kursen billig“. Starökonom Irving Fisher wurde mit der Expertise berühmt: „Die Aktienkurse haben, wie es aussieht, ein dauerhaft hohes Niveau erreicht“. Die Harvard Economic Society erfreute bis zum bitteren Ende ein gutgläubiges Publikum mit optimistischen Prognosen. Auch damals freilich gab es vereinzelte unbelehrbare Spinner wie den Statistik-Experten Roger Babson, der im September 29 auf der Jahrestagung der amerikanischen Wirtschaft von einem bevorstehenden schweren Einbruch an der Wallstreet mit nachfolgender Wirtschaftskrise faselte. Er wurde als altmodisch abgetan und von Princeton-Professor Stag Lawrence öffentlich abgekanzelt: „Das einhellige Urteil der Millionen, deren Bewertung auf diesem großartigen Markt zum Ausdruck kommt, lautet, dass die Aktien nicht überbewertet sind. … Wo sind denn jene Leute mit dem umfassenden Wissen, das sie ermächtigt, gegen das Urteil jener vielen intelligenten Menschen zu sprechen.“
Doch alle Ähnlichkeiten zwischen 1929 und der Gegenwart berechtigen keineswegs zu Prognosen. Die Welt hat sich inzwischen tiefgreifend verändert. Nicht binnen Tagen sondern binnen Minuten verbreiten sich heute die Eruptionen der Kapitalmärkte rund um den Globus. Die Zahl der Aktionäre hat sich vervielfacht. Von den Konzernchefs werden heute mit einer damals nicht vorstellbaren Routine die Kurse nach oben manipuliert. Turbulenzen wie einst im Vorfeld des schwarzen Freitag werden inzwischen bei Nasdaq, DAX und Dow Jones kühlen Gemütes ausgesessen. Auch an Arbeitslosenzahlen im Multimillionenumfang haben wir uns einigermaßen gewöhnt.
Was haben Tulpenzwiebeln mit Internet-Firmen gemeinsam? Sie stehen für zwei der wohl verwunderlichsten Verirrungen der spekulierenden Gier. Beide haben die Phantasie in schier atemberaubendem Ausmaß zu beleben vermocht, gewiss nicht die menschliche Phantasie in all ihren wunderbaren Dimensionen, sondern die Phantasie, reich zu sein, unglaublich reich, übernacht oder zumindest in wenigen Wochen, ohne Schweiß und Mühe, kurzum die nackte Sucht nach Geld. Die Tulpenzwiebeln im 17. Jahrhundert, die Internet-Firmen zur Jahrtausendwende.
Wie die Börsenwerte von Internet-Firmen, so schossen damals die Tulpenpreise in Höhen, die kein Verstand mehr nachzuvollziehen vermag. Für eine einzige Tulpenzwiebel der seltenen Sorte „Semper Augustus“ wurden im Jahr 1636 bezahlt 4600 Gulden, ein neuer Wagen und zwei graue Stuten mit Zaumzeug und Geschirr. Gewöhnlichere Tulpenzwiebeln freilich waren sehr viel billiger. Beides, Tulpen wie Internet-Firmen hatten die Faszination des Neuen, beide Märkte erfreuten sich eines kraftvollen, atemberaubenden Wachstums, doch bei beiden entkamen die Marktwerte schließlich jeder Vernunft und multiplizierten sich binnen Monaten. Im Jahr 2000 standen dem Börsenwert amerikanischer Internet-Aktien von 410 Milliarden Dollar Umsätze von nur 15 Milliarden Dollar gegenüber und vier von fünf dieser Firmen schrieben rote Zahlen. Für den Internet-Dienstleister Lycos Europe haben die Börsianer im März 2000 anderthalb Milliarden Mark hingeblättert, bei kaum 40 Millionen Umsatz dieser Firma im Halbjahr zuvor. Der Winzling war damit mehr Wert als die DAX-Firmen MAN, Linde und Karstadt-Quelle zusammengenommen. Eine Tulpenzwiebel blüht und vermehrt sich immerhin Jahr für Jahr. Bei Lycos Europe dagegen überstiegen die Verluste damals noch den dürftigen Umsatz. Die Börsianer haben sich daran nicht gestört. Die Aktien gingen weg wie warme Semmeln. „Dreist – dreister –Lycos Europe“ , so titelte die Süddeutsche Zeitung. Doch das war kein Einzelfall und auch keine europäische Besonderheit. So erfreute sich eine kalifornische Firma, die Firmen irgendwas an Dienstleistung für deren Präsentation im Internet andiente, bei einem Jahresumsatz von 17 Millionen Dollar und einem Jahresverlust, der diesen kläglichen Umsatz noch übertraf, eines Börsenwertes von 1,75 Milliarden Dollar. Jede Packung heißer Luft ließ sich in der Dotcom-Blase mit astronomischem Gewinn an der Börse verhökern, wenn nur irgendwas wie e-commerce oder Internet auf dem Prospekt stand. „Heute besteht die Gefahr, dass Studenten der Betriebswirtschaft im achten Semester, die einen kaum durchgerechneten Businessplan mit Desktop-Publishing aufmotzen, mit Geld zugeschissen werden“, schrieb „Die Woche“ im April 2000 unter dem Titel „Wir Daxianer“.
Im Unterschied zu den meisten Geburten des Neuen Marktes fristet sich Lycos Europe freilich noch immer durchs Leben, mit haarsträubenden Verlusten pro Jahr, einem „accumulated deficit“ von 1,5 Milliarden Euro, einem dahinsiechenden Börsenkurs von 80 Cent und einem Börsenwert von 250 Millionen, trotz stetiger „loss of operations“, weil Bertelsmann und andere Große diesem Portal für Finanzmarktinfos noch Zukunft zutrauen oder vielleicht die Verluste steuermindernd in Konzernbilanzen unterbringen oder auch einfach schon zuviel Geld in dieses schwarze Loch reingeschüttet haben. Die Hoffnung stirbt halt zuletzt. – Yahoo, 1995 mit 46 Mitarbeitern aus der Taufe gehoben, erreichte binnen drei Jahren einen Börsenwert von 30 Mrd. $, bei einem Umsatz von 200 Millionen und einem Kurs-Gewinn-Verhältnis von 600:1. Im Jahr 2000 war Yahoo dann schon um die 100 Mrd. $ wert. 20 Jahre zuvor hätte kein Investor eine solche Aktie angefasst. Doch der Laden hat als einer von sehr Wenigen das Platzen der Blase überlebt, bei weitem nicht in den damaligen Dimensionen, aber mit bescheidenem Gewinn. Die Aktie fällt, Yahoo gilt als Übernahmekandidat, immerhin, und macht derzeit Schlagzeilen nicht mit seiner dürftigen Performance, sondern mit der Denunziation chinesischer Internet-Dissidenten an deren Staatssicherheit und den Boykottaufrufen von Journalistenverbänden.
Beim Tulpenboom in Holland wurden Häuser und Ländereien für ruinös niedrige Preise verhökert oder an der Tulpenbörse in Zahlung gegeben, um im Rausch eines explodierenden Reichtums mitschwimmen zu können. Ein Brauereibesitzer in Utrecht tauschte seine Brauerei gegen drei Tulpenzwiebeln. Tulpen, oder zumindest die Teilhabe an einer Tulpenzwiebel, wurden zum Prestigeobjekt. Auch Handwerker, Seeleute, Dienstmädchen, Schornsteinfeger und Flickschneiderinnen liqudierten Ersparnisse und Vermögen und stiegen ins Tulpengeschäft ein – so wie zur Jahrtausendwende Hamburger Skatclubs und Hausfrauenkränzchen in Köln und Brandenburg in den Neuen Markt. Kaum einer der Aktionäre hatte eine Ahnung, was seine Firmen eigentlich so produzierten oder produzieren wollten. Und nur wenige der zahllosen holländischen Tulpenzocker hatte damals je eine Tulpenzwiebel in der Hand gehabt. Die edleren Sorten waren auch viel zu teuer. Man glaubte irgendwann, alle Wohlhabenden der Welt würden bald Tulpenzwiebeln kaufen, so wie man um 2000 erwartet hat, dass jeder Zulu und mongolische Hirte binnen kurzem im Internet surft. In der Tat haben fast alle Kleingärtner inzwischen Tulpen und fast alle westlichen Haushalte Internet. Nur hat das etwas länger gedauert und Aldi-Preise mit sich gebracht.
Und damals wie zur Jahrtausendwende waren die Meisten überhaupt nicht an der eigentlichen Ware interessiert. Die holländischen Handwerker wollten keine Tulpenzwiebeln, sie wollten Kasse machen. Weil Tulpenzwiebeln real nur von Juni bis September verkauft werden konnten und ansonsten in der Erde schlummerten, entstand auch damals schon ein Markt für Terminkontrakte. Diese Kontrakte wurden im Normalfall nicht durch Lieferung von Tulpenzwiebeln erfüllt, sondern durch Zahlung der Differenz zwischen Kontraktpreis und Tagespreis, ebenso wie sich heute ein atemberaubendes Roulette an Warenterminkontrakten um Rohstoff- und Metallmärkte ausgewuchert hat.
Schließlich hoffte fast Jeder auf den größeren Idioten und darauf, sich mit gutem Gewinn davongemacht zu haben, bevor die Blase platzt. Wer zu teuer verkaufen will, verarmt. Das ist eine alte Börsianer-Platitüde. Reich wird, wer zu früh verkauft. Und wie heute Aktien, so wurden damals auch Tulpenzwiebeln auf Kredit gekauft. Als die Klugen und Vorsichtigeren im Februar 1637 ausstiegen aus dem Tulpengeschäft – kein Mensch weiß, aus welchem konkreten Anlaß – kam das Ende schnell. Edeltulpen verloren binnen einer Woche Dreiviertel ihres Wertes. Die Preise gewöhnlicher Tulpen halbierten sich an einem einzigen Tag. Danach fielen die Preise ins Bodenlose. Die Massen-Euphorie hatte sich in eine Massen-Hysterie und dann in eine Depression verwandelt. Vorausgegangen war in den drei Monaten zuvor eine wüste Achterbahnfahrt an der Edeltulpenbörse mit katastrophalen Zwischentiefs und zugleich immer neuen Rekorden – kurzum ein hochvolatiler Markt. Wer sich per Terminkontrakt zum Kauf der inzwischen fast wertlosen Zwiebeln verpflichtet hatte, war ruiniert, wer auf Kredit gekauft hatte, meistens auch. Tausende verloren Haus und Hof. Man hatte kaum noch Geld für das Überlebensnotwendige. Konsum und Investitionen lagen danieder. Der Zusammenbruch lähmte die holländische Wirtschaft für viele Jahre. Dennoch hat sich die Tulpe ebenso durchgesetzt wie Internet und e-commerce.
Beim Crash des Neuen Marktes ist die Wirtschaft dagegen erstaunlich glimpflich davongekommen. Gewiss, einige Millionen hatten hier und in Übersee ihre Ersparnisse fürs Alter in den Sand gesetzt. („Man riet mir, diese Aktien als Alterssicherung zu kaufen. Es war ein toller Erfolg. Binnen einer Woche war ich zum alten Mann geworden“, so einer der Geprellten.) Doch die Weltwirtschaft geht über solche Belanglosigkeiten heute gelassen hinweg. Wie kam es überhaupt zu dieser Blase aller Blasen? Was verlieh ihr diese erstaunliche Verführungskraft? Warum prallten die Warnungen von Zentralbankchefs und Aktiengurus vor Überhitzung und Crash an den hypnotisierten Gemütern von Zockern und Neobörsianern ab wie Schrotkugeln an Bunkerwänden? „Es gibt unheimliche Ähnlichkeiten zwischen dem Aktienmarkt heute und dem, was in den 20er Jahren in den USA passierte“ – so Wirtschafts-Nobelpreisträger Milton Friedman im September vor dem Crash. Und vergebens mokierte sich Amerikas Zentralbankchef Allan Greenspan über die „irrationale Begeisterung“ der Börse und redete von Überhitzung. Die Bullen kamen just nach dieser Warnung erst noch richtig auf Trab. Der Boom fing neues Feuer. Nicht ob, sondern um wieviel die Kurse weiter nach oben schießen würden – nur darüber stritten sich Börsengurus und Broker. Doch wer mehr als 40 Prozent haben will, der sollte sich mit Spirituosen befassen und nicht mit Aktien.
In den 20ern kreierten Eisschrank, Staubsauger, Radio, Telefon und Kino und Autos zu erschwinglichen Preisen jenen way of life, der nach dem Krieg erst in Europa durchbrach. In den 90ern revolutionierten Chip und Laser, Biotech und Gentech, PC, Handy und Internet Alltag, Technologien und Lebenswelt. Sie brachten einen so radikalen Wandel quer durch fast alle Branchen und Sektoren wie kein anderer technischer Durchbruch des letzten Jahrhunderts. Dass die Aufbruchsstimmung in Euphorie umschlug, war nicht allzu verblüffend.
Zugleich wurde die Macht der Medien in Kampagnen einer zumindest in Westdeutschland lange nicht erlebten Intensität eingesetzt, um ein Zeitalter und Volk der Aktionäre zu schaffen. Dem seltsamen Duo Ron Sommer und Manfred Krug war es gelungen, die Aktie, wie damals die Wirtschaftspresse jubelte, „volksfähig“ zu machen, wobei freilich wenngleich des Volkes Faszination wieder ein wenig nachgelassen hat. In der Tat überflügelte 2000 die Zahl der Aktionäre die der Gewerkschaftsmitglieder – ein von einschlägiger Presse als „historisch“ gefeiertes Datum. Wie der Staat die Anteile eines zum Konzern verwandelten Behördenmonsters in der zweiten und dritten Tranche zu Preisen zu verscherbeln vermochte, von denen heute keiner mehr zu träumen wagt – chapeau! Jedem nicht besoffen gemachten Analytiker musste doch klar sein, dass die Telekom mit ihrer Beamtenschaft am Hals kaum der große Performer in diesem brutalen bald von Hungerlohnkonkurrenten usurpierten Markt würde sein können. Der kometenhafte Aufstieg der T-Aktie auf 104 und dann der Absturz auf nahe 8, das hat nicht wenigen klugen, wohlgebildeten und konservativen Naturen in Deutschland das Selbstbewusstsein gebrochen. Der Sturz der T-Aktie und der rasche Tod des Neuen Marktes rissen den gesamten DAX in die Tiefe. Die „Gewinnwarnung“, dieses post-neoliberale Oxymoron, wurde zum Leid- und Unwort des zunächst missglückten Epochenwechsels.
Die 12 Millionen Euro, die Ron Sommer mitnehmen konnte, als er 2002 den Hut nehmen musste, waren, verglichen mit dem so Gängigen, eher noch ein dürftiges Betthupferl (17, 5 Mio. € für Carly Fiorina, die 2005 gefeuerte Chefin von Hewlett-Packard, 150 Mio. Abschiedsprämie 2005 für Pfizer-Chef McKinell, 305 Mio. für Exon-Chef Lee Raymond usw.). Immerhin, die goldenen Fallschirme für Pioniere der Vermögensvernichtung, für wegen Fehlleistungen gefeuerte Topmanager, will Sakorzy zumindest in Frankreich, nach der Erfahrung mit EADS, abschaffen.
Die Zahl der deutschen Aktionäre ist wieder von 12 auf 10 Millionen gesunken. Doch das sind noch immer weit mehr als die Gewerkschaften noch an Mitgliedern zählen. Deren Auszehrung wieder schlägt durch auf die Löhne, treibt die Renditen und damit wieder die Börse. Dazu die Fusionitis. Ja, wir wissen es zur Genüge. Mindestens 36 Milliarden Dollar hat Herr Schrempp mit Chrysler in den Sand gesetzt. Andere veranschlagen die Kosten dieser „Hochzeit im Himmel“ auf 40 Milliarden Euro, derzeit 53 Milliarden Dollar. Das sind mehr als zwei Prozent vom deutschen Volkseinkommen – eine erstaunliche Leistung für eine Einzelpersönlichkeit außerhalb der Politik. Und Zetsche muss noch eine Milliarde hinterherschaufeln, um den Laden überhaupt vom Hals zu bekommen. Was hatte es Schrempp, dieser „Mister Shareholder“, „Manager des Jahres“ etc., dessen teutonische Verbissenheit auf dem freundlichsten Foto nicht wegzuretouchieren war, doch eilig, zunächst den high-tech-Konzern kleinzukloppen, damit Edzard Reuter auch noch zu Lebzeiten die Zerstörung seines Lebenswerkes mitbekam. Daimler – das war durch die Nachkriegsgeschichte das Synonym für deutsche Wertarbeit und eine idiotensichere Aktie. Da konnte doch nichts schief gehen! Dann der Kauf dieses Schrottkonzerns. Chrysler stand seit langem für das Gegenteil von Qualität und Verlässlichkeit. Da gab es nichts, was das übliche Geschwafel von Synergien irgendwie hätte rechtfertigen können. Es war fast, als hätte die Deutsche Bank mit der Staatsbank von Simbabwe fusioniert. Wie viele Jahre Herr Schrempp den Absturz der Daimler-Aktie von 102 bis auf 29 hat aussitzen können, das rechtfertigt Zweifel an der Funktionsfähigkeit der Aktionärsdemokratie. Schließlich war Chrysler beiliebe nicht der einzige Schuss in den Ofen, der auf SChrempps – laut Bilanzen wurden bei Daimler in zwei Jahrzehnten 60 Milliarden Euro verbrannt.
Daimler-Chrysler, ein Albtraum gewiss, doch nur einer von vielen und bei weitem der schlimmste nicht. Die Unglücks- und Katastrophenfälle reihen sich aneinander wie Perlen einer Rosenkranzkette. Die Fusion von Dresdner und Deutscher Bank war noch rechtzeitig gescheitert. Dann fiel die Dresdner für 24 Mrd. € der Allianz in die Hände. Das mit den Synergien klappte auch hier nicht so recht, man fand „atmosphärisch“ nicht zusammen.. Der Schaden wird auf 16 Mrd. € veranschlagt. Die als Traumhochzeit gefeierte Fusion von Hypo- und in München geriet zum Desaster, wie es die deutsche Bankenwelt noch nicht erlebt hatte. Nach verheerenden inneren Kriegen wurde der runtergekommene Restkonzern von der italienischen Unicredit geschluckt. Klein- und sonstige Restaktionäre erklären sich für „ausgenutzt und hinausgeschmissen“ (Süddeutsche Zeitung, 26.6.079. Zur Zeit zofft man sich vor dem Landgericht München um ein paar Milliarden, um die man die HBV-Tochter Austria Creditanstalt, immerhin Österreichs größte Bank, zu billig zugunsten der Unicredit verscherbelt habe.) Die Mesalliance von Time Warner und AOL schlug mit einem Minus von 51 Mrd. € zu Buche. Und als sich world com, der Welt drittgrößter Telefonkonzern, in den USA für 129 Mrd. $ den Konkurrenten Sprint einverleibte, war das die bis dato teuerste Fusion der Geschichte. Bald wurde sie zu einem der größten Börsenskandale. Ein einziges Quartal brachte einen Verlust von 54 Mrd. $. Die Aktie stürzte von 64 $ auf 9 Cent.
Das sind Fälle aus der heißen Zeit um die Jahrtausendwende. Der finale Crash des neuen Marktes und der Sturzflug des DAX von über 8000 auf zweieinhalbtausend Punkte bis März 2003 sorgten für Abkühlung. Doch die Zeit der Besinnung ist überwunden. Letztes Jahr summierten sich die Fusionen weltweit auf 3,6 Billionen Dollar. (Das Volkseinkommen Deutschlands bewegt sich bei 2,3 Billionen Dollar.) Die Wahnsinnswerte des Rekordjahres 2000 sind damit überboten. „Rückkehr der Unvernunft“ – so dazu ein Titel der Wirtschaftspresse. (SZ 14.3.6). Doch allein in der ersten Jahreshälfte 2007sind es bereits 2,4 Billionen Dollar. Die Schweizer Großbank UBS warnt inzwischen vor „Verschleißerscheinungen“ in diesem Monopoly. Dabei ist hinreichend bekannt, dass etwa Zweidrittel der Fusionen in die Hose gehen. Nach einer Untersuchung der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Ernst&Young von 189 Fusionen der Jahre 1992-2006 wurde nur in jedem dritten Fall ein spürbarer Wertzuwachs erreicht. Und 62 Prozent aller 1950-2000 erfassten Fusionen werden von der Wirtschaftsforschung als gescheitert oder wertevernichtend eingestuft
.
Natürlich fragt man sich, warum die Konzernchefs rund um den Globus der Fusionitis verfallen, anstatt sich mit dem zu befassen, was sie nach konservativem Vorurteil eigentlich tun sollten – neue und bessere Produkte zu entwickeln und preiswerter zu produzieren. Die Kurs-Euphorie an den Neuen Märkten war von high-tech-Träumen beseelt, von einer Goldgräbermentalität an der Schwelle zur neuen Epoche. Doch was erklärt den Rummel um eher klassische Firmen? Die Gründe sind die Gier nach Marktmacht, der Selbstbereicherungstrieb des Topmanagements, das Brauchtum, Firmenkäufe mit eigenen Aktien zu bezahlen, die share-holder- und Kurspflege-Ideologie und der Zwang, institutionelle Anleger zu betütteln – kurz Road show genannt. Diese Motive und Triebkräfte verstärken einander wechselseitig. Zum Einkommen des Topmanagements gehören Optionen auf die Aktien der eigenen Firma. Weil die Börse bei fast jeder Fusion kurzfristig die Kurse steil nach oben treibt, steigt der Wert dieser Optionen kräftig an. Dieses Nebeneinkommen der Topmanager übertrifft ihr normales Salaire oft um ein Vielfaches, von Insidergeschäften abgesehen, die man keinem redlichen Manager unterstellt. Schließlich hat jeder Freunde und Großcousins. So hatten die Übernahmeschlachten von und um Mannesmann den Börsenwert des Konzerns etwa verdreifacht. Und die Ankündigung von AOL, den Medienkonzern Time Warner aufzukaufen, hat dessen Marktwert von einem Börsentag auf den nächsten um 46 Prozent oder 45 Milliarden Dollar hochschnellen lassen.
Aber warum werden bei einer Übernahme Unsummen über dem Wert geboten, den die Börsen bislang dieser Firma zugemessen haben? Es gibt – abgesehen von Hysterie – nur eine plausible Erklärung – und das ist eben Marktmacht. Der Marktführer habe größere Freiräume der Preisgestaltung, so erklären die Experten. Das heißt im Klartext nichts anderes, als das seine überlegene Profitabilität nicht auf wirtschaftlicher Leistung beruht, sondern darauf, dass er teuerer verkaufen kann. Und das setzt voraus, dass er über Machtmittel verfügt, sich Konkurrenten vom Hals zu halten oder sie rasch zur Raison zu bringen. Er kann Zulieferfirmen Bedingungen diktieren und technische Standards und Systeme auch dann durchsetzen, wenn sie weit schlechter sind als die der Konkurrenz – siehe Microsoft und früher IBM.
Doch es bedarf keineswegs eines Quasi-Monopols wie im Fall Microsoft, um Marktmacht durchzusetzen. Nur 3 bis 5 Global Players würden in jeder Branche übrigbleiben so liest man allenthalben . Doch 3 bis 5 Firmen – das ist genau die klassische Zahl für ein gut funktionierendes Oligopol, wo man hochsensibel und hellwach ziemlich gleichzeitig die Preise liftet oder senkt und Newcomern einmütig das Genick bricht. (Beispiel sind die Mineralölkonzerne oder der deutsche Zigarettenmarkt, der von vier Firmen beherrscht wird. Wenn sich deren Preise im Gleichklang bewegen, so ist das purer Zufall oder Intuition. Ihre Gewinnsituation jedenfalls ist excellent.) Die bei Konzernaufkäufen gezahlten Wahnsinnspreise sind rationale Investitionen, insofern sie den Zusatzgewinn künftiger Marktbeherrschung einkalkulieren und zum Teil vorwegnehmen. Das Oligopol – der GAU für jedes nationale Kartellamt – droht global zum Normalfall zu werden. Rundum formieren sich Firmen einer bislang unbekannten Dimension. Wenn der Griff nach Marktbeherrschung oder zumindest nach Marktmacht misslingt – es zumindest versucht zu haben wird oft wohl als schiere Überlebensnotwendigkeit gesehen. Im übrigen sind Firmenvorstände etwa sieben Jahre im Job und versuchen oft, in dieser Zeit ihr Schaf ins Trockene zu bringen. Auch Schrempps Salaire schoss mit der unseligen Chrysler-Fusion in die Höhe. Und auch etwa alle 7 Jahre wird eine neue Sau übers Börsenparkett gejagt und eine völlig neue Konzernstruktur als unverzichtbare Überlebensbedingung erkannt.
Das große Fressen wird zudem ungemein durch den Brauch erleichtert, mit eigenen Aktien zu bezahlen. Rund 400 Milliarden Mark hatte Vodafone („Voice Data Fax over Net“, wer setzt heute noch auf Fax-Technologie?) für Mannesmann hingelegt, ohne Bargeld, bezahlt mit eigenen Aktien, deren Kurs in dieser Übernahmeschlacht nach oben geschossen war. Die Summe entsprach dem Volkseinkommen von Österreich und Irland zusammengenommen. Gemessen am Umsatz war Mannesmann viermal größer als der Winzling aus England. Hernach wurde der Wert von Mannesmann wieder um 100 Milliarden Mark korrigiert. Vodafone-Chef Gent ist längst gefeuert; weltweit wurden seiner Strategie Verluste von weit über hundert Milliarden Euro zugeschrieben.
Und ob eine Fusion schief geht oder nicht – eine Seite gewinnt immer. Das sind die Berater, die Wirtschaftsprüfer und die Banken, die den Zusammenschluss begutachten, vorbereiten und über die Bühne zu hieven helfen. 25 Milliarden Dollar haben Banken bereits im ersten Halbjahr 2007 an Gebühren im Fusionsgeschäft eingestrichen. Toyota übrigens, der weltweit erfolgreichste Autokonzern – er wird dieses Jahr wohl General Motors überholen – hat nie eine andere Firma gekauft.
Freilich bietet die Börse bekanntlich nicht die einzigen Verlockungen für risikofreudige Kleininvestoren. Deutschlands grauer Kapitalmarkt ist einer der unsichersten und am wenigsten durchschauten Europas. So sind die Chancen, mit einem der zahllosen Immobilienfonds das Geld für den Lebensabend zum Zweck seiner Vermehrung im deutschen Osten in den Sand zu setzen, weidlich genutzt worden. Akut geistert die Pleite der „Göttinger Gruppe“ durch die Wirtschaftspresse. Zufolge gerichtlicher Entscheidung darf der Konzern als „Abzockergruppe“ und als „modifiziertes Schneeballsystem“ bezeichnet werden. Im „größten Anlageskandal der deutschen Nachkriegsgeschichte“ (Süddeutsche Zeitung 9.6.) sind zwar jetzt 170 Haftbefehle gegen Manager der Vertriebsgesellschaft „Securenta“ erlassen worden, um diese zu eidesstattlichen Aussagen zu zwingen. Doch die führenden Köpfe werden wohl nie gesiebte Luft atmen. Denn die Grenzen zwischen Betrug und wirtschaftlichem Scheitern seien nun mal fließend. Und die mehr als einhunderttausend Geprellten müssen zu ihrem Totalverlust wohl noch massig Geld nachschießen, denn ihre Ratenverträge laufen bis zu 40 Jahren.
Der Schock des Neuen Marktes ist weithin der Amnesie anheim gefallen. Weltweit wächst der Hunger auf reizvollere Risiken. Den kann die klassische Börse allein kaum noch stillen. Ja, die Hedgefonds zum Beispiel. Keinerlei Anlagebeschränkung. Keine Höchstgrenzen für Verschuldung. Unbeschränkter Einsatz von Derivaten wie Optionen, Futures, Leerverkäufen (von Aktien, die man nicht besitzt). Sie investieren – bislang meist – extrem kurzfristig. Sie spekulieren auf mikroskopische Zinsdifferenzen in verschiedenen Währungsgebieten, kaufen faulgewordene Kredite und Aktienpakete und mischen als „Aktionärsaktivisten“ den Laden, in den sie eingestiegen sind, oft gründlich auf – siehe die Enthauptung der deutschen Börse, als sich diese den Londoner Stock Exchange einverleiben wollte. Rechtlich logieren sie meist in Steueroasen. Über zehntausend dürften es inzwischen sein. Nicht wenige Finanzmarktexperten und Politiker im „Alten Europa“ fühlen sich von dieser 1600-Milliarden-Dollar-Branche irgendwie bedroht. In den USA erreicht allein der Markt für Kreditderivate – vereinfacht gesagt, Wetten auf die Bonität von Schuldnern – 26 Billionen Dollar. Das ist das Doppelte des amerikanischen Bruttoinlandprodukts. In Deutschland wurden erst 2004 mit dem „Investmentmodernisierungsgesetz“ Hedgefonds zum öffentlichen Vertrieb zugelassen, versehen mit einer eher rührenden Auflage: Im Prospekt müssen – ähnlich der Gesundheitswarnung auf Zigarettenschachteln – sich die Worte finden: „Der Bundesminister der Finanzen warnt: Bei diesem Investmentfonds müssen Anleger bereit und in der Lage sein, Verluste des eingesetzten Kapitals bis hin zum Totalverlust hinzunehmen.“ Weil deren Renditen, solange es gut geht, die von seriöseren Investmentfonds meist übertreffen, steigen da inzwischen auch Pensionskassen gerne ein, deren Job die Verwaltung der Altersersparnisse kleiner Leute ist.
Bei nicht wenigen Finanzministern wächst offenkundig ein flaues Gefühl in der Magengrube. Schließlich hatten schon 1998 die Multimilliardenverluste der LMTC (Long Term Capital Investment) wegen Fehlspekulationen auf fallende Zinsen in Russland – und da saßen immerhin zwei Wirtschaftsnobelpreisträger im Board – fast das Weltfinanzsystem kollabieren lassen. Eine Feuerwehraktion der amerikanischen Zentralbank im Verein mit 14 Großbanken hat damals eine Kettenreaktion gerade noch verhindert. Der Versuch von Steinbrück und Kollegen auf dem G8-Gipfel, Hedgefonds ein wenig zumindest unter Aufsicht und Kontrolle zu bringen, scheiterte an der britisch-amerikanischen Blockade. Der Geist ist aus der Flasche. „Es ist ja nicht so, dass wir Leute, die in Hedgefonds investiert haben, davor schützen sollen, Geld zu verlieren. Das ist unvermeidbar und wahrscheinlich auch wünschenswert“ – ließ Thimothy F. Geithner, der neue Chef der FED, wissen.
Ängste und neuen Stress kreiert akut die Übernahme von Firmen durch „Privat Equity“, „Finanzinvestoren“, „Beteiligungsgesellschaften“, „Heuschrecken“ oder wie immer man sie nennen mag. Sie trimmen die gekauften Firmen auf schnellen Profit und verscheuern sie nach wenigen Jahren. Das Geld dazu wird größtenteils geborgt. Schuldenlast und Zinsdienst wird den aufgekauften Firmen aufgehalst. Damit steigen Rendite und Risiko. „Leverage Buy-Outs“ (LBOs) nennt man diese gehebelten Übernahmen. Selbst im marktradikalen Großbritannien stehen diese neuen „Herren des Universums“ inzwischen als Jobkiller und Firmenplünderer am Pranger. Der „Independent“ schrieb von der „hässlichen Fratze des modernen Kapitalismus“. Den Finanzinvestoren werden von den Banken die Kredite geradezu aufgedrängt und hinterhergeschmissen und die Zinsen waren bislang niedrig. Das kann sich ändern. „Der Markt ist fundamental hoch verschuldet…Das Grundproblem ist, dass für die Unternehmen zu optimistische Geschäftspläne gemacht werden, um die Kreditauflagen zu erfüllen. Es gibt Firmen, die werden umfallen, wenn es einmal fünf Tage regnet“, so Ansgar Zwick, Chef der auf Deutschland spezialisierten Investmentbank Houlihan Lokey. Noch regnet es nicht.
Doch was treibt Dow und DAX derzeit auf neue Rekorde, derweil die Staaten verarmen und die Infrastruktur verfällt? (In Deutschland sind die öffentlichen Investitionen 1994-2005 um mehr als ein Drittel gefallen. Es wird desinvestiert, wie in der späten DDR.) Aus welchem Grund entschwinden die für Firmenaufkäufe hingeblätterten Summen bereits wieder den wirtschaftlichen Realitäten? Der bei Fusionen im Mittel gezahlte Aufpreis auf den Börsenwert ist dieses Jahr von 24 auf 36 Prozent hochgeschnellt. Warum gieren Massen von Anlegern nach immer schärferen Risiken? Es gibt schlicht zuviel überschäumende Gewinne, zuviel Geld, das wieder gewinnbringend investiert werden will. Sieht man einmal ab vom Restbestand an Arbeitnehmermassen und von denen, die nicht mal jemand ausbeuten will, und auch von den Öffentlichen Händen, so schwimmt die westliche Welt im Geld. Der Expertenjargon spricht von „Liquiditätsüberhang“. In Deutschland z.B. ist seit 2000 das gesamte Bruttoentgelt aller Arbeitnehmer um nominal vier Prozent gewachsen und real, nach Inflation, um fünf Prozent gefallen. Die Gewinne legten um 37 Prozent zu.
Eine Volkswirtschaft folgt einem harmonischen Wachstumspfad, wenn die Gewinne auf der einen Seite und der Zuwachs von Löhnen und Staatsausgaben auf der anderen Seite so aufeinander abgestimmt sind, dass die wachsende Nachfrage soviel an neuen Kapazitäten verlangt, dass es für die Gewinne ein Investitionsmotiv gibt. Denn Gewinn will wieder gewinnbringend angelegt werden und realen Gewinn erwirtschaften kann Kapital nur, wenn es produktiv investiert wird. Alles andere, Antiken, Immobilien und dergleichen, das sind Umverteilungen zwischen den Besitzern von Kapitalvermögen. Entsteht bei stark einseitiger Einkommensverteilung mehr an Gewinn, als sinnvoll investiert werden kann, so steigt die Nachfrage nach Besitztiteln an Produktivvermögen, ohne dass dieses Produktivvermögen selbst entsprechend wächst. Das treibt den Preis dieser Besitztitel nach oben. Die bekanntesten solcher Titel sind Aktien. Das Resultat ist Börsenfieber.
Doch bei rapide steigendem Kurs sinkt notwendig die Rendite. Denn Produktivität und Gewinn einer Firma wachsen nun einmal nicht im gleichen Maße, wie die Börse nach oben schießt. Dieser Verfall der Renditen wird im Börsenboom überkompensiert durch den rasanten Kursanstieg. Der Kursgewinn ersetzt den realen im Unternehmen erwirtschafteten Ertrag. Spekulation ist das Gegenstück zur Inflation auf der Kapitalseite. Steigen die Löhne stärker als Produktivität und Produktion, treibt das die Preise. Vermehren sich dagegen die Gewinne außer Proportion zu den Chancen für sinnvolle Investitionen, entsteht Spekulation. In Deutschland ist die Inflation derzeit bescheiden, der Preisanstieg hat eine Eins vor dem Komma, die Spekulation dagegen gerät wieder außer Rand und Band und die Börse torkelt neuen Rekorden entgegen.
Doch Börsenkurse können nicht unendlich steigen. Stoppt ihr Höhenflug, dann müssen sie kollabieren. Wenn Aktien vor allem gehalten werden in der Hoffnung auf Kursgewinn und weniger der Dividende wegen, so gilt es rasch auszusteigen, wenn die Erwartung auf weiteren Kursanstieg sich verflüchtigt. Das System ist folglich extrem instabil. Mit den Worten der Börsianer: Wir haben einen hochvolatilen Markt.
Was geschieht nun eigentlich mit den Hunderten von Milliarden oder Billionen von Dollars und Euros, die anlagesuchend um den Globus vagabundieren oder sich in steigenden Kursen verfangen, die oft keinen Bezug mehr haben zu den erwartbaren Renditen? Solange damit Sachinvestitionen gezahlt werden, ist das bestens. Aber kein Unternehmer stellt sich Maschinen hin, die er nicht braucht, weil es an Nachfrage fehlt, auch wenn er im Geld schwimmt und die Zinsen nahe Null sind. Helmut Schmidts Diktum „Die Gewinne von heute sind die Investitionen von Morgen und die Arbeitsplätze von Übermorgen“ – kurzum „Lohnverzicht bringt Jobs“ – es gilt nur bei lohnlastiger Verteilung des Volkseinkommens und von der kann gegenwärtig keine Rede sein. Derzeit wird auch in Deutschland wieder real vernünftig investiert, es war überfällig. Denn es gab massiven Rückstau und Nachholbedarf, doch Kapitalmangel war evident nicht der Grund dafür. Auch Löhne legen nach langer Stagnation und Verfall jetzt wieder maßvoll zu. Doch die Rede ist von dem Geld, das sich in den letzten Jahren aufgestaut hat, und von jenem Liquiditätsüberhang, der dank der mittlerweile weltweit durchgesetzten Einkommensverteilung zwischen Arbeit, öffentlichen Händen und Kapital weiter wächst und gedeiht. Was geschieht letztlich mit diesem Reichtum?
Was denn nun ist die Börse? Das Steuerungs- und Nervenzentrum der modernen Marktwirtschaft oder je nach Laune eine Geldvernichtungsmaschine oder eine Retorte zur Urzeugung von Reichtum oder alles zugleich? Milton Friedmans nüchternes Diktum „There is nothing like a free lunch“ – es gilt auch für den Kosmos der Börsen.
Die einzige wirkungsvolle Methode, Geld zu vernichten, ist dessen maßlose Vermehrung. Welcher Deutsche besitzt nicht irgendwo hinten im Schrank noch einige Milliarden- oder Billionenscheine aus den frühen 20er Jahren. Keine halbwegs arbeitsteilige Wirtschaft kann mit einer Inflation um 1200 Prozent funktionieren, wie derzeit in Simbabwe. Doch was sind die Folgen, wenn explosive Geldvermehrung sich auf der Kapitalseite vollzieht, bei Renditen, Vermögenserträgen und Spekulationsgewinnen? Für einen Luxus orientalischer Dimension fehlt unseren Leistungsträgern und Besitzeliten schlicht die Phantasie. Und so steigen eben auf dieser Seite unserer offenen und zugleich doch immer stärker zerklüfteten und in sich separierten Gesellschaft die Preise in schwindelerregende Höhen, eben nicht die Brot- und Milchpreise, sondern die für Besitztitel, für Aktien und alles andere, was Rendite verspricht. (Warum Deutschland und Österreich die Explosion der Immobilienpreise in der westlichen Hemisphäre bislang nicht mitvollzogen haben, wäre gesondert zu betrachten. Doch es mehren sich die Anzeichen dafür. „Heuschrecken“ wie Cerberus, Fortress, Blackstone und Annington kaufen zu Hunderttausenden Wohnungen in Deutschland auf. Und die im Frühjahr zugelassenen „Reits“, Real Estate Investment Trust,) erfreuen sich massiver Steuervorteile.)
Dass niemand reicher wird, wenn man jedermanns Geldvermögen verdoppelt, das begreift ein jeder sofort. Das gilt selbstredend auch bei jedem Zuwachs von x Prozent. Und so wird auch niemand ärmer, wenn man auf den Banknoten eine Null streicht und auf den Konten eine Kommastelle verrückt (sofern auch alle monetären Ansprüche und Verpflichtungen gleich discountiert werden). Trifft eine Entwertung nur einen Teil der Zahlungsmittel, so führt auch das zu einer Deflation, zu einer Steigerung der in den anderen Zahlungsmitteln verkörperten Ansprüche. Deren Kaufkraft steigt, weil sinkender Nachfrage wegen Preise sinken, freilich auch Wertschöpfung zugunsten von Freizeit und Arbeitslosigkeit entfällt. Aktien sind Wertpapiere, sind jederzeit in Geld konvertierbar und insofern eine Form von Geld. Sie sind Währungen sui generis mit hochvolatilem Wechselkurs. Niemand würde behaupten, es seien X-hundert Milliarden an Euro oder Renimbi vernichtet worden, wenn mal wieder der Dollarin den Sturzflug geht (1984-88 fiel er immerhin um 54 Prozent). Es werden nur Ansprüche umgeschichtet. Für die Aktienkurse dagegen ist diese Sprechweise gang und gebe. Stürzt DAX oder Dow, so liest man jeweils, wie viele hundert Milliarden Dollar oder Euro vernichtet worden sind. Denn dieses Umschichten, dieser Besitzwechsel von Ansprüchen, bedeutet halt für Viele den Raub ihrer Ruhestandsgelder und den Sturz in die Armut. Sechs Milliarden Dollar Verlust quasi übernacht meldete beim Crash 1987 die Pensionskasse kalifornischer Lehrer. Und Millionen Amerikaner müssen seit dem Platzen der Dotcom-Blase über die erhoffte Altersgrenze hinaus jobben, weil ihre Ersparnisse zum Teufel sind. Doch der zynische Trost für verunglückte Spekulanten – „Ihr Geld ist nicht weg; es hat nur ein Anderer“ – es trifft schlicht die Wahrheit. Jedem realen Verlierer steht ein Gewinner gegenüber.
Wer seine Aktienpakete als Altersvorsorge für lange hält, der mag sich halbtot freuen, wenn der DAX binnen vier Jahren auf das Vierfache steigt (2003-2007) und sich grün ärgern, wenn er wieder einbricht auf das vorige Niveau. Doch geändert hat sich dann im Saldo für ihn nichts – wohl dagegen schon für die, die oben eingestiegen sind und nach dem Crash raus müssen oder sich schwacher Nerven wegen in Panik davonmachen, und natürlich für jene Spielernaturen, die enthusiasmiert von der Euphorie auf den Märkten den Wertzuwachs ihres Eigentums für Kredite verpfändet haben, um beim Spekulationskarussell mitzumischen. Börsenkurse sind Preise von Aktien.
Werte kann man vernichten, Preise nicht. Die können steigen oder fallen, bis auf Null, gewiss. Wenn Herr Schrempp den Börsenwert seines Ladens in den Keller manövriert, so ist das bitter für alle, die ihre Papiere als eine Art Geld betrachten und nutzen, als eine Währung. Maschinen, Gebäude und Kompetenzen bleiben davon unmittelbar unberührt und die Preise der Edelkarossen aus Sindelfingen desgleichen. Geldscheine sind Ansprüche auf Sachwerte und Leistungen, auf die Arbeit Anderer. Wer sein Geld in die Papiere von worldcom gesteckt hat, hat diese irgendwem abgekauft. Er hat Ansprüche abgegeben, nicht vernichtet. Kursstürze und Börsenboom, das sind größtenteils Umverteilungen, nichts weiter, zunächst. Kaufe ich dagegen Anteile an einem innovativen Startup, so hoffe ich auf Erfindungen und deren Marktdurchsetzung, auf eine reale Wertschöpfung. Wird daraus nichts, bin ich mein Geld zwar los. Aber die in den Scheinen enthaltenen Ansprüche sind nicht weg, sondern in anderen Händen, eingelöst von den Mitarbeitern dieser Firma und ihren Partnern bei Edeka, Mango oder Toyota. War halt nichts, nur Umverteilung.
Doch die Kraft des Geldes ist bekanntlich enorm. Die „Geldillusion“, der vermeintliche Wertzuwachs bei maßvoller Inflation, treibt Kauflust, kann Investitionen stimulieren und Arbeitsplätze schaffen. Das gilt erst recht und in anderer Stärke und Stabilität bei einem realen Zuwachs an Kaufkraft. Fließt Geld von jenem Segment der Gesellschaft, wo es fast nur inflationär wirkt, zu denen, wo es Nachfrage nach Arbeitsleistung auslöst, so geht mit solcher Umverteilung der Anreiz zur Schaffung von Werten einher. Das gilt bei inflationärem Lohnzuwachs für eine Umverteilung hin zur Kapitalseite ebenso wie bei allzu stark sprudelndem Gewinn, mit dem die Spekulation angefeuert wird, für eine Umverteilung hin zu denen, die wirklich was Konkretes kaufen.
Selbstredend kommt hier der Einwand, wir seien doch längst ein Volk von Aktionären. Neun bis zehn Millionen Menschen halten Aktien, nur eben wie viele? Und so ganz nahe an der Mehrheit im Lande ist das noch nicht. Diese Zögerlichkeit grassiert keineswegs nur im gemeinen Volk. Selbst Hermann Joseph Abs, der legendäre Chef der Deutschen Bank, einst befragt, was er von der Börse halte, entgegnete knapp: „Die Finger!“ Wie viel Gewicht das stolze Heer der Kleinaktionäre in die Wagschale werfen kann, das erlebt man auf den Hauptversammlungen, wo ihr Worte bisweilen eindrucksvoll, doch ihre Stimmen schlicht belanglos sind. 0,8 Prozent der Steuerpflichtigen kassieren fast die Hälfte (44,4%) der Dividenden (DIW-Paper zur Abgeltungssteuer, April 2007).
Auf lange Sicht werfen halbwegs seriöse Aktien meist deutlich mehr ab als Zinspapiere. Immerhin stieg der DAX seit 1988 auf das Zehnfache. Doch die Börse pulsiert nun mal und mit dem Notgroschen fürs Alter spielt nicht jeder so gern Roulette. Schließlich halten selbst unsere Vermögenseliten nur einen Bruchteil des Ihren in Aktien. Dank der bei größerem Besitz mühelosen risk diversification können sie ruhig schlafen und zugleich komfortabel kassieren. Die 50 Topverdiener Deutschlands haben allein ihr Dividendeneinkommen jetzt binnen Jahresfrist fast verdreifacht, vom Zuwachs des Börsenwertes ihrer Papiere ganz zu schweigen.
Doch das Spiel von Topmanagern und Finanzmarktequilibristen, Firmen und Fonds einander aufkaufen zu lassen und damit deren Kurse hochzutreiben, ist eben nicht unbedingt die volkswirtschaftlich fruchtbarste Verwendung dieser Gelder. Sie schaffen damit keine Werte, sondern treiben Preise. Kurzum – es gilt, die Einkommensverteilung so zu steuern, dass die Steuerungswirkung des Geldes nicht allzu schädlich auf die Realwirtschaft und deren Vitalität durchschlägt. Da liegt man weltweit derzeit gelinde gesagt nicht nahe am Optimum.
Von all den Funktionen des Geldes wird seine Prestigefunktion bei krasser Kopflastigkeit der Geldverteilung zunächst wohl gestärkt. Sich Millionär oder Milliardär nennen zu können, das hat schon was und setzt Leistungsanreize. Deutschland glänzt da inzwischen mit der nach den USA höchsten Zahl von Milliardär/innen und deren Zahl hat sich jetzt noch binnen Jahresfrist nahezu verdoppelt, von 55 auf 100. Deutschlands Manager sind die bestbezahlten Europas. (Das verschönert auch die Lohnstatistik, denn auch Herr Ackermann von der Deutschen Bank ist Arbeitnehmer.) Dieses Prestige gerät auch nicht ganz so schnell unter inflationäre Entwertung. Die Hortungsfunktion des Geldes dagegen wird arg geschädigt, wenn man seine Euros oder Dollars in Aktien umtauscht und Börsenwerte binnen drei Jahren sich auf Bruchteile reduzieren oder sich ein Billionen-Phänomen wie der Neue Markt quasi in Luft auflöst. Die Funktionsfähigkeit des Geldes für den realen Handel, für Arbeitsteilung und für die betriebliche Kalkulation wird vom Ab und Auf an den Börsen jedoch erstaunlich wenig berührt. Darin zeigt sich, wie stark sie von der Realwirtschaft entkoppelt sind. Erst wenn es zu einer brutalen Dauerdepression kommt wie 1929-33, dann schlägt das Primat der Börse durch auf die Realität. Dann wirkt sie in der Tat als Wohlstandsvernichtungsmaschine.
Geld kann man nicht zusammenschießen und nicht bombardieren. Es hat keinen Wert. Es materialisiert sich heute in der Anordnung magnetisierbarer Teilchen auf Festplatten. Werden diese gelöscht, so gibt es meist back ups oder anderswo komplementäre Anordnungen. Die Geldschöpfung durch die ingeniösen Phantasien von Finanzjongleuren, die Kreation von Optionen auf Optionen, von Wetten auf Wetten, Kartenhäusern über Kartenhäusern, entkommt der begrifflichen Fixierung. Wo bewegen sich die Grenzen zwischen realwirtschaftlichen Ansprüchen und Luftgebilden? Die rapide Virtualisierung des Geldes macht es Zentralbanken immer schwerer, sinnvoll Geldmengen zu bestimmen und diese und mit diesen Wirtschaft und Inflation zu steuern. Wie misst man welche Umlaufgeschwindigkeiten in Zeiten eines off-shore-verankerten globalen Billionen-Roulettes? Gold – war das irgendwie solider? Ein Professor Hankel – einst hat er als Chef der Hessischen Landesbank Milliarden in den Sand gesetzt – reist beredt durch die Lande und predigt die Rückkehr zum Goldstandard. Genauso gut könnte man Flussspat oder Bernstein als Weltwährung dekretieren. Oder Rosenöl. Gewiss, Rosenöl kann man produzieren. Aber es ist auch nur eine Frage des Arbeitsaufwandes und damit des Preises, wie viel Gold man aus der Erde kratzt. Non olet. Doch Rosenöl riecht besser und seine Produktion ist weniger zufallsunterworfen. Rosenöl kann man verkippen, Gold einschmelzen, Geld nicht. So hat auch der Strom des Golds nach der Erschließung der Neuen Welt in der Alten Welt nur die Inflation beflügelt und Ansprüche umverteilt.
Geld lebt von seiner Akzeptanz. Der Zloty wurde von Dollar und Mark unterwandert, die Mark dereinst von Zigaretten. Zloty und Reichsmark wurden kaum umgetauscht oder nur zu abstrusen Kursen. Sie verblassten einfach als Zahlungsmittel. Akzeptanz ist Konvention. Konventionen können sich verlieren. An ihre Stelle treten andere. Das Wasserrohr im Klo wurde dann nicht mehr für Mark oder Zloty repariert, sondern für Dollar oder Zigaretten. War halt eine Umverteilung. Repariert wurden Wasserrohre noch immer. Wann der nächste Crash kommt, weiß niemand; die Anlässe sind meist belanglos. Dass er kommt, ist sicher, eben aufgrund dysfunktionaler Verteilungen von Einkommen und Vermögen. Vielleicht sind Billionen von Dollar und Euro dann wie weggeblasen. Vernichtet? Real existiert haben sie nie. Sie waren eine Fiktion von Reichtum eben weil die einer solchen Kaufkraft gegenüberstehenden Werte nicht mit ihr gewachsen sind. Vernichtet oder blockiert worden sind zuvor, beim Aufstauen dieser Geldmengen, Potentiale der Wertschöpfung. Menschen, pardon, Produktionsfaktoren blieben ungenutzt. Neofeudalistische Verteilungen von Ansprüchen auf Arbeitsleistung und Werte entfesseln nicht erst im Crash ihre destruktive Kraft. Schon im Börsenboom schädigen sie die wirtschaftliche Dynamik.
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