DIE GROSSE ENTSTAATLICHUNG
Sie sind schwindsüchtig, schwach und fügsam, fast hinfällig. Doch sterben können die Staaten nicht. Unentbehrlich ist ihre schiere, ausgemergelte Fortexistenz. Sie scheinen zu endlosem Siechtum verurteilt. Sie sind die Untoten dieser Epoche. Die Bankenkrise führt es erneut vor alle Augen. Wer von den politischen Führungskadern noch irgendetwas an Gegensteuerung einfordert gegen evident destruktive Prozesse in der Weltwirtschaft, sieht sich sofort als weltfremd, inkompetent und ignorant gebrandmarkt. Drohende Kettenzusammenbrüche mit dem Großeinsatz öffentlicher Gelder in Feuerwehraktionen abzuwenden und den Profiteuren einer destruktiven Dynamik freiwillige Selbstbeschränkungen abzubetteln, das ist das Äußerste, was sich die Akteure an den Schaltstellen politischer Ohnmacht noch vorstellen können.
Ja, die Globalisierung, man kann es nicht mehr hören. Sie ist das Totschlagwort des Jahrzehnts, der Joker im Ärmel des politischen Topmanagements, mit dem jedwede sozialpolitische Obszönität durchsetzbar wird. Sie ist der Schwammbegriff, der grundverschiedene Phänomene und Trends in sich aufsaugt, Billiglohnkonkurrenz aus dem Nichtwesten und das Ausspielen von Konzernbelegschaften gegeneinander ebenso wie die Entfesselung der Finanzmärkte, die Invasion diverser Heuschreckenpopulationen, die Steuersenkungswettläufe von Nationen und die Aushöhlung vitaler Staatsfunktionen, und all dies zu einem dunklen übermächtigen Ganzen verschwimmen lässt. Sie ist Realität und Ideologie zugleich. Nach Faschismus und Kommunismus ist sie die dritte und letzte totalitäre Ideologie des 2o. Jahrhunderts – totalitär, denn sie durchdringt alle Bereiche des Lebens. Sie duldet bei Strafe oder zumindest Drohung des Untergangs keine Widersetzlichkeit und keine anderen Götter neben sich. Sie bietet die Vision einer Schönen Neuen und einer schrecklichen Welt zugleich, verheißt grenzenlosen Fortschritt und rosige Zukunft ebenso wie grenzenlose Verelendung. Nationen und deren Führung verwandelt sie von Akteuren zu Adapteuren, zu Exekuteuren hochbornierter fremder Absichten oder von niemanden entworfenen Imperativen („Sachzwänge“ nennt man dergleichen). Wer sich am fügsamsten vorauseilend anpasst, fahre noch am wenigsten schlecht. So verbrauchen Regierungen hochengagiert ihre Restmacht dazu, dieselbe im Zeitraffer zu reduzieren und diesen Verzicht als Standortvorteil in die Wagschale von Investoren zu werfen. Auch die jüngste Unternehmenssteuerreform in Deutschland ist mit nichts anderem begründet worden als mit Steuersenkungen andernorts.
Die Diffusität des Globalisierungsbegriffe ist Vorbedingung des politischen Ohnmachtsgehabes. Will jemand Dumpingimporte eingrenzen, die zum Teil unter menschenverachtenden Bedingungen produziert werden, so folgt reflexhaft der Verweis auf die fortschrittsblockierende Wirkung eines jeden Protektionismus. Da wird die unbestreitbare Abwegigkeit von Handelsbarrieren innerhalb der EU extrapoliert zu einer selbstschädigenden Wirkung eines handelspolitischen Reagierens auf Importoffensiven aus Fernost, die ihren Erfolg selbst zum Teil politischen Instrumenten wie einer künstlich niedrig gehaltenen Währung verdanken. Der Verweis auf die Vorteile eines unbehinderten Kapitalverkehrs zwischen den Nationen des Westens bringt es halt mit sich, auch die Off-shore-Finanzzentren sich auswuchern zu lassen. So schlägt sich der unterstellte Paketcharakter aller unter dem Schlagwort der Globalisierung subsummierten Prozesse und Verhaltensweisen in einer Scheu vor dem Moderieren auch nur einer einzigen fragwürdigen Entwicklung auf den Waren-, den Arbeits-, den Geld- und den Kapitalmärkten nieder, in einer Passivität gegenüber der Erosion von Staatsfunktionen – eben in einem entschiedenen politischen Willen zur Ohnmacht.
Derzeit hat die Angst vor einem Absturz der Weltwirtschaft infolge von Kettenzusammenbrüchen von Fonds und Banken selbst die Heuschreckenphobie aus den Schlagzeilen verdrängt. Natürlich hat niemand von jenen mit mehrstelligen Millionenhonoraren pro Jahr dahinvegetierenden Fondmanagern und sonstigen Finanzmarktexperten ahnen können, dass Subprime-Hypotheken an Millionen mittelloser Hauskäufer in den USA, denen man oft noch das Geld für neue Möbel aufgedrängt hat, nicht mehr von fast allen bedient werden, wenn, wie vertraglich von vornherein vereinbart, deren Zinsen sich nahezu verdoppeln. Bestaunenswert ist es schon, wie das Elend von armen Schluckern in Minnesota und Kalifornien dank der Innovationsschübe auf den Finanzmärkten bis in die ostdeutsche Provinz durchschlägt. Das eben leistet Globalisierung. Sie verquickt das Wohl und Weh einfacher Menschen rund um den Erdball. Sie schafft transkontinentale Schicksalsgemeinschaften und verwirklicht insofern cum grano salis die Vision der Einen Welt, wenn auch etwas anders, als von manchen Utopisten erträumt. Wir kommen darauf zurück und wenden den Blick zunächst auf das Szenario eines nationalen Niedergangs durch industrielle Auszehrung. Es wird, sobald die Finanzkrise zwischenzeitlich verebbt, spätestens jedoch nach der Bundestagswahl, wieder in die Schlagzeilen manövriert werden.
Fragt man den gemeinen Mann auf der Straße, was wohl die Hauptursache der Arbeitslosigkeit ist, so wird man von fast allen zu hören bekommen, das seien Billiglohnkonkurrenz und Produktionsverlagerungen. Am stärksten ausgeprägt ist diese Sichtweise ausgerechnet in jenem Land, das davon wohl am wenigsten geschädigt ist und, bislang, davon so stark wie keine andere Nation des Westens profitiert. Mit einer wohlorchestrierten Kampagne hat man über zwei Jahrzehnte den Verfall des „Wirtschaftsstandortes Deutschland“ menetekelhaft an die Wand projiziert. Bekanntlich gieren Hunderte von Millionen leistungsbereiter Kulis und Muschkoten in Asien und Osteuropa nach deutschem Kapital und verdingen sich zu Löhnen, mit denen hierzulande kein Hund überleben kann. Arbeit werde billig wie Dreck, auf lange Sicht werde ein Arbeitsloser in Hamburg nicht anders leben als ein Arbeitsloser in Sao Paulo oder Kiew, Wohlstand werde künftig nur noch bedeuten, schmerzfrei ins Bett gehen zu können und so weiter und so fort.
Der Handelsüberschuss Chinas explodiert geradezu und übertriff 2007 wohl erstmals den Deutschlands. Ist soviel Exportaggressivität noch tolerierbar? Etwa 800 000 Jobs sind in den letzten zehn Jahren in der deutschen Industrie verschwunden und über 500 Milliarden Euro an Direktinvestitionen in dieser Zeit ins Ausland geflossen. An den Fingern scheint man abzählen zu können, wann der letzte Industriejob im Ausland verschwunden ist. Nur haben diese beiden Entwicklungen nicht allzu viel miteinander zu tun. Die Direktinvestitionen kommen zumeist aus vitalen Branchen wie Autoindustrie, Chemie und Maschinenbau . Sie konzentrieren sich auf westliche Hochlohnländer. Sie folgen den Exporten, sichern und erschließen Märkte. Ihnen stehen ausländische Investitionen in Deutschland in nahezu gleichem Umfang gegenüber (ohne den Mannesmann-Vodafon-Deal überwiegen freilich klar die deutschen Transfers).Freilich erfolgt seit mindestens einem Jahrzehnt der Löwenanteil dieser Kapitaltransfers im Zuge der Fusionitis und sonstiger Unernehmenskannibalismen. Zweifellos lassen sich auch zahlreiche Produktionsverlagerungen aus Gründen der Arbeitskosten aufzählen. Die Angst davor fügt sich ins Kalkül der Konzerne. Sie drückt die Löhne und ist nicht selten auch berechtigt.
Die Horrorvision vom Absturz ganzer Volkswirtschaften und Nationen durch Billiglohnkonkurrenz folgt den einfachsten ökonomischen Denkweisen und ist fast so alt wie der Kapitalismus selbst. Vor anderthalb Jahrhunderten schrieb Georg Weerth aus Hamburg an seinen Freund Heinrich Heine:
“…ich versichere Ihnen, dass einiger Mut dazu gehört, um sein Publikum aufzusuchen. Jetzt schreiben! Wofür? Wenn die Weltgeschichte den Leuten die Hälse bricht, da ist die Feder überflüssig. … Die Produktion der australischen Küsten ist in so kurzer Zeit so sehr gesteigert, dass schon jetzt die Wolle unsrer Antipoden das Produkt der adligen Schafzüchter im Herzen von Sachsen und Schlesien zu verdrängen anfängt. Mit jedem Tag rücken die russischen Eisenbahnen dem Baltischen und dem Schwarzen Meer näher; das Gold des Ural muss die Wege bahnen, auf denen bald der Bodenreichtum des Innern Russlands nach allen Richtungen dringen wird, um in einer Konkurrenz auf Leben und Tod den deutschen Ackerbau zu vernichten. Was die Eisenbahnen auf dem Festlande zurechtbringen, vollendet seit der Abschaffung der englischen Navigationsakte die Ausdehnung der Segelschiffahrt auf allen Meeren, so dass bald die Produkte des Mississippi ebenso rasch und billig in unsern Häfen eintreffen werden wie die Produkte des eigenen Landes.
Dann beginnt der große Kampf; nicht der Kampf des Christentums mit dem Heidentum – nein! Es heißt: Kampf zwischen dem Golde des Ural und dem Golde Kaliforniens, Kampf zwischen russischem und amerikanischem Getreide, Kampf zwischen amerikanischem und deutschem Korne, Kampf zwischen australischer und deutscher Wolle, Kampf zwischen der Baumwolle und dem Flachs, Kampf zwischen den westindischen Kolonien und der deutschen Runkelrübe! Und in diesem Zusammenstoß, in dieser Völkerwanderung nicht der Cimbern, der Goten und der Hunnen – nein, der Korn-, der Kaffee- und der Wollsäcke, ja, in diesem unerhörten Wettstreit der Produktion jungfräulicher Länder werden die alten Reiche der Franken und Germanen, ausgesogen bis auf die Hefen, verschuldet bis über die Ohren, sich vergebens anstrengen: Land, Lage, Wissenschaft, neue Einrichtungen geltend zu machen; der Preisunterschied wird stets zu ihrem Nachteil sein, und wenn sie der Preisunterschied immer entschiedener dazu zwingt, die Produktionskosten zu ermäßigen, und der Hunger, der Vater der Revolutionen, die Könige geschlachtet, den Adel gefressen haben wird, da werden wir doch wahrscheinlich noch in der großen Völkerschlacht der Konkurrenz überwunden und vernichtet, so dass nach Jahren vielleicht von ganz Deutschland nichts anderes übrigbleibt als die Hegelsche Philosophie und ein Band Ihrer Gedichte. – Dies ist der einzige Trost, den ich Ihnen bieten kann.”
Das Faszinierende an dieser Prognose ist ihre Falschheit. Fast in jedem Detail ist sie eingetroffen, nur insgesamt nicht. Kaffee, Wolle, Mais und Baumwolle aus Übersee waren in der Tat nicht aufzuhalten. Kaum jemand in Sachsen züchtet heute noch Schafe und der deutsche Flachsanbau ist längst belanglos. Doch nicht die deutsche Wirtschaft verfiel, sondern die volkswirtschaftliche Bedeutung dieser Waren.
Vor zwei Jahrzehnten liefen die Linken mit ähnlichen Prognosen – zeitgemäß aufgefrischt – Sturm gegen das Aufkommen multinationaler Konzerne. Ihre Argumente wurden nach einigem Zögern von eben diesen Konzernen dankbar aufgenommen und als Druckmittel eingesetzt. Einige Branchen sind in der Tat verschwunden aus Deutschland oder wurden dezimiert, die Fotoindustrie, die Schuh- und Lederindustrie; andere wie die Bekleidungsbranche halten sich nur noch in Nischen. Gegen Produktionsverlagerungen darf nach deutschen Recht nicht einmal gestreikt werden, doch man darf einen Sozialplan zu erstreiken versuchen, welcher der Firma so teuer kommt, dass sich die Verlagerung nicht mehr lohnt. Was sich vollzog und vollzieht ist – bislang – keine Emigration der deutschen Industrie, sondern ein Schub an internationaler Spezialisierung und Arbeitsteilung. Der Streik gegen die Verlagerung des AEG-Waschmaschinenwerkes aus Nürnberg nach Südpolen lief über Wochen durch die Medien. Die Jobs sind weg. Doch seit dem EU-Beitritt vor vier Jahren hat sich der deutsche Exportüberschuss gegenüber Polen vervielfacht, auf über acht Milliarden Euro. Dem entsprechen weit über hunderttausend Arbeitsplätze. Doch die entstehen kaum dort, wo diese Jobs vernichtet worden sind.
Hans-Werner Sinn, Chef des Ifo-Instituts in München, sieht Deutschland zu einer „Basarökonomie“ verkommen, wo nur noch im Ausland gefertigte Teile unter dem Label „Made in Germany“ zusammengefügt werden (was rechtlich nicht zulässig wäre, dies nur am Rande) und nur hinterm Verkaufstresen noch deutsche Arbeitsplätze sich finden. Von all den verstiegenen Behauptungen, mit denen sich „Deutschlands klügster Ökonom“ (BILD) profiliert, ist das wohl die unsinnigste. Der deutsche Exportüberschuss ist der höchste der Weltwirtschaftsgeschichte und verzeichnet Jahr für Jahr neuen Rekord. Und ein Handelsüberschuss misst nun mal die im Saldo exportiert Wertschöpfung einer Nation. Grob geschätzt entsprechen dem etwa 3,6 Millionen deutscher Arbeitsplätze. Im Klartext: Kraft seiner Weltmarktstärke hat Deutschland eine Arbeitslosigkeit von etwa 3,6 Millionen exportiert.
Dennoch trifft die These des Trends hin zu einer Basarökonomie insofern zu, als die Fertigungstiefe in Deutschland sinkt. Immer mehr einfachere Komponenten werden importiert und in deutsche Hightechprodukte eingebaut werden. Genau darin besteht das Erfolgskonzept der deutschen Wirtschaft. Durch diese transnationaler Arbeitsteilung innerhalb einer Produktion werden Jobs im Inland gehalten und hinzugewonnen. ( „Wollen Sie lieber 80 Prozent von 100 oder 50 Prozent von 400?“, so Professor Staubhaar, Chef des Hamburger Weltwirtschaftsinstituts, in einer semipolemischen Antwort auf Professor Sinn.) Der Anteil der Industrie an den Arbeitsplätzen ist in Deutschland noch immer so hoch wie in kaum einem anderen Land des Westens. Qualität, jus-in-time, Innovationsfähigkeit, Rechtssicherheit, Arbeitsdisziplin und soziale Stabilität überkompensieren zumeist die Vorteile billiger Arbeitskräfte jenseits der Grenzen.
Nicht Produktionsverlagerungen stehen hinter der Arbeitslosigkeit, sondern der Siegeszug der Chips. Er hat die Nachfrage nach an- und ungelernter Arbeit einbrechen lassen. In der gesamten westlichen Hemisphäre ist seit den 70er Jahren der Anteil der Industrie an der Beschäftigung gesunken, von 28 auf etwa 18 Prozent, und er wird noch weiter bis auf zehn Prozent sinken. Zu diesem Resultat kam bereits vor der Jahrtausendwende eine Analyse des Internationalen Währungsfonds. Lohnverfall und Arbeitslosigkeit seien schlicht eine Folge des technischen Fortschritts. Man wird hinzufügen müssen: Sie sind die Folge der politischen Unfähigkeit oder Unwilligkeit, technischen Fortschritt in Wohlstand und Freizeit statt in Arbeitslosigkeit umzumünzen, und insofern ein Fall von gravierendem Staatsversagen. Aus der gesetzlichen Verpflichtung, Beschäftigung zu sichern, hat man sich leise und schulterzuckend verabschiedet. (“Indem sich die reichen Länder einreden, dass die Gefahr von außen kommt, werden sie blind für die Veränderungen, die sie selbst auf den Weg gebracht haben,” so Daniel Cohen von der Sorbonne in seinem Buch “Fehldiagnose Globalisierung”.)
Dennoch ist die Globalisierung bekanntlich alles andere als ein Papiertiger. Das Drohpotential einer Verlagerbarkeit von Betrieben, Aufträgen und Gewinnen innerhalb eines Konzerns ist Hauptfaktor für den Fall der Lohnquoten und, wegen dieses Kaufkraftverfalls, auch Ursache von Arbeitslosigkeit. Zulieferfirmen sehen sich einem Erpressungspotential gegenüber, das sie in einen ruinösen weltweiten Unterbietungswettbewerb treibt und die Lohnspreizung innerhalb der Nationen des Westens forciert. Von schier unsäglichen Umgangsformen in der Autoindustrie wurde vor Jahren schon im Wirtschaftsausschuss des Bundestages berichtet. Chefs von Zulieferfirmen wurden einbestellt und vor deren Augen gültige Verträge zerrissen, mit der süffisanten Bemerkung: „Sie könne ja klagen.“ Innovationen deutscher Zulieferfirmen, Autokonzernen als Angebot vorgelegt, wurden ohne Rücksprache an Firmen in Spanien weitergereicht. Niemand wagt, Ross und Reiter zu nennen. Er wäre weg vom Fenster.
Nicht die neue Billiglohnkonkurrenz ist der Problemkern der industriellen Globalisierung. Dergleichen hat oft schon in der Geschichte für Schocks und Verwerfungen gesorgt. Es geht um das gegenseitige Ausspielen von Arbeitnehmern und Administrationen innerhalb der westlichen Hemisphäre.
Konzerne haben mit den ihnen durch technischen Fortschritt zugewachsenen Optionen von Mobilität einen Entwicklungsschub durchlaufen, auf den auch die geschwächten Staaten mit wechselseitigem Unterbieten und mit Regression reagieren. Lamentiert wird darüber seit zwei Jahrzehnten. Auf eine Gegenstrategie hat man sich bislang auch nicht im Ansatz zu einigen vermocht. So treibt die Globalisierung die Industrienationen bekanntlich in einen Steuersenkungswettlauf und die Schulden der öffentlichen Hände ins Unbewältigbare. (Der Steuern wegen werden im Übrigen kaum Arbeitsplätze, wohl aber Gewinne verlagert und das ist für einen halbwegs versierten Finanzchef wahrlich die kleinste Übung.) Der Wettbewerb auf den Märkten für Güter und Dienstleistungen wird ergänzt und ersetzt durch den Wettbewerb von Regierungen und Regionen um Investoren. Dabei wird dem jeweils einzelnen Investor in zähen Verhandlungen zugestanden, was allgemein nicht finanzierbar ist. Subventioniert wird nicht mehr, um spezifische Standortschwächen auszugleichen, sondern um die Subventionen anderer Standorte zu überbieten.
Sozial-, Umwelt- und Steuergesetzgebung werden angepasst. So war unter Rotgrün im Bundesrat die Blockade einer jeden über die 1:1-Umsetzung von EU-Recht hinausgehenden Regelung zum Umwelt-, Arbeits-, Gesundheits-, Sozial- und Verbraucherschutz schiere Selbstverständlichkeit, stets mit Berufung auf Konkurrenznachteile. Mittlerweile wird diese Blockadearbeit im Kabinett selbst erledigt. Das Gleiche wiederholt sich auf EU-Ebene mit Verweis auf den Weltmarkt. Der Staat mit dem miesesten ökologischen, gesundheitlichen und sozialen Schutzniveau setzt die Maßstäbe – zumindest in der politischen Routine von Lobbyisten. Der Attraktivität des Landes für Investoren wegen versuchen Regierungen, beim Deregulieren die Nase vorn zu haben oder zumindest nicht den raschen Nachvollzug andernlands erfolgter Zurücknahmen von Staatlichkeit zu versäumen. ( Instruktiv ist hier die unlängst vollzogene Zulassung von Real Estate Investment Trusts auch in Deutschland. Mit ihnen werden die bislang am Liegenschaftsort zu versteuernden Gewinne aus einer Immobilie erst beim Aktionär steuerpflichtig und der kann sonst wo im Ausland sitzen. Durchgesetzt wurde die Zulassung solcher steuerbefreiter Immobilien-AG´s einzig mit dem Argument, dass diese andernfalls vom Ausland aus agieren würden.)
Der Machtverlust von Staaten spiegelt sich in der Umverteilung der Steuer- und Abgabenlasten und in einer Verarmung der Öffentlichen Hände, die auf den Arbeitsmarkt durchschlägt. So erreichen in Deutschland wie einst in der späten DDR die öffentlichen Investitionen seit langem nicht mehr den Ersatzbedarf. Schon nominal wurden sie 1995 bis 2004 um 35 Prozent abgesenkt, real wohl um mehr als die Hälfte. Infrastruktur und öffentliche Bausubstanz verfallen. Und geradezu erlöst entlassen Bund und Länder bislang Reguliertes in unternehmerische Eigenverantwortung und zwar schon deshalb, weil das Manpower und Kosten spart. Um eventuelle Folgeschäden werden sich später Andere zu kümmern haben.
Mit der Entlastung mobiler Steuerzahler wird ein wachsender Teil der Lasten jenen aufgebürdet, die sich mit einem stetig schrumpfenden Teil des Volkseinkommens abgefunden sehen. Auf der anderen Seite entsteht Überliquidität – eine Geldschwemme am oberen Ende der Einkommenspyramide, für die geradezu verzweiflungsvoll und mit wachsender Risikobereitschaft nach Anlagechancen gesucht wird. Seit Jahrzehnten erlebt die gesamte westliche Hemisphäre eine dramatische Einkommensumverteilung. In Deutschland ist der Gewinnanteil am Volkseinkommen seit 2001 von 28 auf 35 Prozent hochgeschnellt. Absolut, in Euro, bedeutet das einen ein Zuwachs von 35 Prozent. Die produktiven Investitionen dagegen sind 2001-2005 drastisch gefallen. Eine produktive Anlage dieser Gelder war offenbar nicht attraktiv, ihr spekulativer Einsatz vorgezeichnet. Die Vermögensexplosion westlicher Oberschichten ist eine Hauptursache der akuten Finanzkrise.
Werfen wir den Blick auf eine eher winzige Facette im Prozess des Zurückdrängens von Staatlichkeit – auf den Verbriefungsmarkt. Der lebt von bzw. stirbt an den ABS, den „asset backed securities“ ( zu deutsch „forderungsgestützten Sicherheiten) und produziert seit August bekanntlich im Sog der Subprime-Loan-Krise in den USA Ängste, Bankenpleiten und sonstige Katastrophen en masse. Fürstlich bezahlte Chefs von Finanzimperien fliegen aus ihren Jobs. Global Player und deren provinzielle Imitatoren müssen in Feuerwehraktionen der Zentralbanken gerettet werden. Wie stets bei Finanzkatastrophen ist die Infektionsgefahr enorm. Der Krisenvirus mutiert rasch. So war die Northern Rock, die aufgrund der Fernsehbilder von Schlangen kleiner Sparern vor ihren Portalen jäh zu einer dubiosen Berühmtheit kam, im Markt für zweitklassige Hypotheken gar nicht engagiert. Und die Pensionsfonds der Dax-Konzerne, die zwischenzeitlich einen 10-Milliarden-Verlust vermeldeten, hatten damit auch kaum etwas zu schafften.
Wie funktioniert nun die wundersame Innovation der ABS? Jede Bank in einem normalen Staat des Westens darf kraft Gesetz nur ein bestimmtes Vielfaches ihres Eigenkapitals an Krediten vergeben, damit sie den Bankrott zumindest einiger Schuldner überlebt. In Deutschland ist es das Zwölfeinhalbfache des Eigenkapitals. Genau um diese Absicherung auszuhebeln haben Banken nun sogenannte „Zweckgesellschaften“ gegründet und verkaufen ihnen ihre Forderungen aus den vergebenen Krediten. Diese neuen Firmen geben dann verzinsliche Schuldscheine heraus, auf den Finanzmärkten in Dublin, New York, London oder sonst wo, und zahlen aus dem Geld, das sie für diese Schuldscheine erhalten, ihrer Mutterbank die Kaufsumme für die erworbenen Forderungen. Das Ganze ist insoweit nur ein Trick, eine Formalität. Die Bank treibt weiterhin Zinsen und Forderungen aus den Krediten ein, betreibt also nach wie vor das Inkasso, jetzt eben für ihre neue Tochter. Doch pro forma hat sie ihre Kreditforderungen verkauft – die sind jetzt off balance, raus aus den Bilanzen – und darf deshalb neue Kredite vergeben, ohne gegen das Bankengesetz zu verstoßen, und das beliebig oft. Sie kann auf diese Weise grenzenlos Risiken eingehen. Diese „außerbilanzlichen“ Geschäfte und erst recht deren Risiken belaufen sich längst auf ein Vielfaches der in den Bilanzen noch erkennbaren.
Die von der neuen Tochter emittierten Schuldscheine – „gesichert“ durch die Forderungen, ursprünglich der Bank, jetzt ihrer Tochter, gegenüber denjenigen, an die sie Hypotheken oder sonstige Kredite vergeben hat, sind meist von kurzfristiger Art. Sie werden ständig revolviert – beglichen und durch neue Schuldscheine ersetzt. In Bankenkreisen vergleicht man diese kurzfristige Finanzierung langfristiger Forderungen mit einem Rattenrennen im Laufrad. Die Risiken liegen auf der Hand. Doch ein Großteil dieser Forderungen, der ABS, wurde und wird weiterverkauft an beliebige Investoren, die ihrerseits in diese Rattenrennen einsteigen. So hat sich ein stürmischer Handel mit Forderungen und mit den zu ihrer Zwischenfinanzierung emittierten Kurzläufern entwickelt.
Deutschland blieb bei dieser atemberaubenden Entwicklung zunächst ein wenig draußen vor. Blicken wir vier Jahre zurück! Damals lief ein „Gesetz zur Förderung von Kleinunternehmern“ durch den Bundestag. Dabei ging es um Ich-AG´s und sonstige Existenzgründer. Doch dieses Gesetz mutierte zum trojanischen Pferd für ein völlig anderes Unterfangen. Per Zusatzantrag wurde mit ihm eine De-facto-Freistellung der Banken von eben jenen gesetzlichen Vorschriften durchgeboxt, mit denen Solidität und Risikobegrenzung im Geldgewerbe gesichert werden. Der Bundestag hat damals diese Verbriefungsgeschäfte, also den Verkauf der Forderungen von Banken an Tochterfirmen, damit diese Forderungen aus den Bilanzen verschwinden, von der Gewerbesteuer freigestellt, damit sich das Ganze so richtig lohnt. Beschlossen wurde also vor vier Jahren ein Gesetz, das durch Veränderungen im Steuerrecht die Umgehung eben jenes Gesetzes, das die Solidität im Bankwesen garantieren soll, wirtschaftlich attraktiv macht. Für Folgekosten darf der Steuerzahler haften.
Welche hanebüchenen Manipulationen damals abgenickt worden sind, ist aus dem internen Vermerk eines Ministeriums erkennbar. Es werde von der Bankenaufsicht vorgeschrieben, Zitat, „dass zur Vermeidung einer …Einstandsverpflichtung die Bank … mit der Zweckgesellschaft weder konzernrechtlich, kapitalmäßig noch personell verbunden sein darf.“ Den Banken könnten folglich zu keiner Zeit Rechte oder Pflichten daraus erwachsen, so liest man. Doch zugleich bleiben diese seltsamen Tochterfirmen voll im Griff der Banken. Ihr Gewinn, Zitat aus jenem Vermerk, „soll im Interesse der Banken nur sehr gering sein. … darüber hinaus gehende Überschüsse sollen den Banken deshalb in Form von variablen Vergütungen … und nachträglichen Erhöhungen des Verkaufspreises für die Forderungen zugute kommen.“
Diese Bastardkonstrukte sprechen jedem Rechtsverständnis Hohn – keinerlei Verantwortung und Haftung und zugleich doch das Recht, jederzeit nachträglich noch Preise zu manipulieren! Darüber hat man sich im Bundestag kaum den Kopf zerbrochen. Funktioniert hat es jedenfalls nicht, wie man am Desaster auch der Sachsenbank sieht. Die steht voll in der Haftung und mit ihr die Öffentliche Hand. Dabei wurde die irische Tochter der Dresdner Landesbank von Gutachtern vor Jahren schon als „Saustall“ ohne Übersicht über die eingegangenen Risiken charakterisiert. Doch schließlich wurde seinerzeit in der Begründung zum Gesetz ausdrücklich festgehalten, dass solche Firmen nicht der Bankenaufsicht unterliegen.
Die Gefährlichkeit dieser Trends wächst mit der Fragwürdigkeit der vergebenen Kredite, also mit dem Insolvenzrisiko der Schuldner, und mit der Raffinesse, diese Risiken zu vertuschen. Die millionenfache Hypothekenvergabe an amerikanische Kleinkunden, deren baldige Zahlungsunfähigkeit auf der Hand lag, ist im Rückblick kaum begreifbar. Doch es gehörte wohl zum Kalkül, dass ein Großteil dieser Forderungen umgehend weiterverkauft wurde, nicht nur an eigene Tochterfirmen, sondern an beliebige Anleger, und dazu eben vermengt mit Forderungen anderer Art, verpackt in derart komplizierten Konstrukten, dass auch Experten der Rating-Agenturen diese nicht mehr durchblickt, wohl aber freundlich beratet haben.
Der Verzicht auf eine staatlich abgesicherte Solidität des Ratings ist von elementarem Belang in dieser Krisendynamik. Die Rating-Agenturen sind so etwas wie die Türsteher des kontemporären Kapitalismus. Sie „be-labeln“ Wertpapiere, Firmen, Banken, auch Nationen. So hat vor 5 Jahren während der Hartz-Reformen Standard&Poor´s gedroht, Deutschland im Fall eines Scheiterns zurückzustufen (Handelsblatt, 13.12.2002). Für ein Entwicklungsland kann ein mieses Rating schlimmer dreinschlagen als ein verlorener Krieg. AAA bedeutet beste Qualität und geringes Risiko, D-Rating praktisch Zahlungsunfähigkeit. Damit wird bestimmt, zu welchem Zinssatz jemand Kredite bekommt und ob überhaupt und wie gut sich Schuldenpapiere vermarkten lassen. Die Papieren zur Geldanlage gleichen oft Kartenhäusern über Kartenhäusern. Kein normaler Anleger kann deren Risiken noch durchschauen und weiß, inwieweit er einbezogen wird in ein globales Gambling. Peer Steinbrück spottete hier launig über „Wundertüten, in denen Knallfrösche stecken, doch keiner weiß wo.“ (Vortrag am 19.9.2007, Dresdner Bank Berlin) Warren Buffet, einer der erfolgreichsten Investoren der USA, hat einige dieser Konstrukte mit Massenvernichtungswaffen verglichen.
Käufer sind auf Gedeih und Verderb auf das Urteil der Rating-Agenturen angewiesen, deren drei den Weltfinanzmarkt beherrschen. Standard&Poor´s, Moody´s und Fitch erfreuen sich eines Weltmarktanteils von 85 Prozent. Pulitzer-Preisträger Thomas Friedman hat sie als einzige globale Supermacht neben der US-Regierung bezeichnet. „Und es ist nicht immer klar, wer mehr Macht hat“, so Friedman. Auch Jochen Sanio, Chef der deutschen Finanzaufsicht, sieht in ihnen „die große unkontrollierte Macht der Finanzmärkte“. Zum einen sollen diese Agenturen für Solidität sorgen. Zugleich aber sind sie Privatfirmen, sind gewinnorientiert und leben von den Gebühren der Kundschaft, die ihre Anleihen und sonstige Schuldenpapiere an die Anleger bringen will. Fühlt sich jemand mies bewertet, wandert er wohl ab zur Konkurrenz. Der Emmitent kann so oft zu den Bonitätbewertern gehen, bis er das gewünschte Rating erhält. Der Interessenkonflikt ist unübersehbar. Doch Sparer und Anleger vertrauen und meist blind auf diese Bewertungen. Sie können auch kaum anders.
Auch Banken haben diese auf Undurchschaubarkeit hin getrimmten Papiere fremder Emmitenten gekauft. Und so hat sich bekanntlich auch die Sächsische Landesbank mit geborgtem Geld in Spekulationen im amerikanischen Westen verrannt, und das in einem Umfang, der den Landeshaushalt Sachsens um ein Mehrfaches übersteigt. 64 Milliarden Euro sollen es sein. Zumindest damit hat man Weltniveau erreicht. Denn auch die Zweckgesellschaften von Citigroup, dem größten Finanzkonzern der USA, haben kaum mehr Geld in fragwürdige Papiere gesteckt als die sächsische Provinzbank, off-balance auch dort und mit voller Haftung der Konzernmutter. Citigroup-Chef Charles Price wurde prompt gefeuert, wenngleich mit einem Schmerzensgeld von 40 Mio. $. Heute herrscht Konsens, dass die Rating-Agenturen hochriskante Papiere rundum zu freundlich eingestuft haben. So sind auch höchstbewertete Geldanlagen übernacht unverkäuflich geworden wie verrotteter Fisch. Vor sechs Jahren hatte Moody´s und auch Standard&Poor´s den US-Energie-Riesen enron als relativ soliden Schuldner eingestuft – just fünf Tage, bevor der Konzern Konkurs anmelden musste.
Von der akuten Hypothekenkrise in den USA ist Ohio besonders brutal betroffen. „Nirgendwo gibt es mehr Zwangsversteigerungen, schlimmer noch – wegen der Verluste von Pensionsfonds bangen Viele um ihre Altersversorgung“; so Ohios Generalstaatsanwalt Marc Dann. Er will Rating-Agenturen vor Gericht bringen: „Sie pflegen ein symbiotisches Verhältnis mit den Investment-Banken – ohne ihr Gütesiegel hätten die Banker diese Papiere gar nicht verkaufen können.“ (Financial Times Deutschland, 10.8.07). Dabei handeln die Rating-Agenturen selbst in großem Stil mit diesen von ihnen eingestuften Papieren. Peer Steinbrück berichtet gar von Fällen, wo Rating-Agenturen selbst Schuldenpapiere emittiert und diese selbst bewertet haben. Der Finanzminister sieht „systemische Risiken gegeben“ und spricht von der „Gefahr, dass die Ökonomie der Politik enteilt“ (a.a.O.) – eine wohl arg beschönigende Wahrnehmung der Realität.
Nirgendwo versagt heute die Marktrationalität so eklatant wie in der entfesselten Finanzbranche. Die Kapital- und Geldmärkte, die nach klassischem Dogma die profitabelsten und damit nützlichsten Investitionen finanzieren sollten, haben sich seit über einem Jahrzehnt schon in eine Spielhölle für Finanzakrobaten und Hasardeure verwandelt, wo selbst mit Optionen auf Optionen spekuliert wird. Wir erleben und zahlen die Nebenwirkungen einer Entstaatlichung, die in keinem anderen Bereich auch nur annähernd zu solcher Vollkommenheit gediehen ist wie auf den Finanzmärkten, im blitzschnellen Jonglieren von Multimilliarden zwischen den Kontinenten.
Bislang stehen im Zuge der US-Immobilienkrise 256 Milliarden Dollar im Feuer. Doch 2008 steigen die Zinsen für viele dieser Hypotheken erneut, von ursprünglich etwa vier auf dann acht Prozent. Dann sind wegen platzender Darlehen über 850 Milliarden Dollar gefährdet, (so das Magazin „Fortune“; ähnliche Prognosen liefert eine interne Studie der Bank of America; Welt-online 28.8.2007). Absehbar steht dann zahllosen Investoren das Wasser bis zum Hals und gnadenlos werden Forderungen eingetrieben und in cash verwandelt werden. Selten sind die destruktiven Folgen eines Zurückdrängens von Staatlichkeit so rasch sichtbar geworden wie bei dieser Teilentlassung von Banken aus dem Reglement, das die Solidität des Kreditgeschäfts sichern soll. Verlässlichkeit des Bankensystems ist Lebensbedingung jeder modernen Wirtschaft. Mindestens wöchentlich warnt derzeit irgendein namhafter Experte, die für 2008 befürchtete Eskalation der Finanzkrise drohe die Weltwirtschaft abstürzen zu lassen.
Ebenso wie bei den Hedgefonds ist das Geschäft mit den Asset Backed Securitys formaljuristisch zumeist off shore verankert, in Jersey, auf den Kaimaninseln, den Virgin Islands und in sonstigen mikroskopischen „außensteuerlichen Sondergebieten“, die eines gewöhnlichen Menschen Fuß kaum betritt. Deren Management wiederum lebt und agiert im Regelfall in London und New York oder bevölkert die Docks von Dublin. Doch als bitter nötig erweisen sich auch hier nach den Profitexzessen und dem Zusammenbruch diverser Risikopyramiden funktionsfähig Reststaaten, die mit Geldspritzen im Multimilliardenumfang aus den hochverschuldeten Staatskassen Kettenreaktionen verhindern oder zumindest verzögern. Dafür wird dann wieder die Ausgabe neuer Staatsanleihen vonnöten sein, in Washington, London und Berlin, deren Papiere von den geretteten Investoren gern übernommen werden, wenn der Zinssatz stimmt.
Sobald die Finanzkrise eine Atempause gewährt, wird sich die öffentliche Verängstigung wieder den Heuschrecken zuwenden, den Hedgefonds und dem Phänomen der Privat-Equity-Investoren. Hedgefonds unterliegen kaum Beschränkungen. Sie handeln mit Derivaten, spekulieren auf fallende Kurse, nehmen Banken faul gewordene Kredite ab und dürfen hohe Anteile an Firmen im raschen Wandel an- und verkaufen. Einst erfunden, um Risiken zu mildern, gelten sie inzwischen als Hort von Instabilität. Mit extremen Anteilen an Fremdkapital steigern sie Rendite und Risiko. Etwa 9000 dieser Fonds soll es derzeit geben. Die Methoden, mit denen Banken die Hedgefonds gewährten Kredite zu sichern versuchen, dürften im Krisenfall der Branche, wenn viele ähnlich agieren, eine sich selbst verstärkende Abwärtsentwicklung auslösen, so Timothy Geithner, Chef der Federal Reserve Bank of New York, unlängst in einer Rede in Hongkong. Der Herdentrieb auf den Finanzmärkten war stets legendär. Doch die „Wahrscheinlichkeit einer katastrophalen Diskontinuität“, so las man vor Monaten schon, sei heute weit höher als vor fünf Jahren. Hinzu kommen Ängste aufgrund getürkter Bilanzen und Betrug. Intransparenz gehört zum Geschäftsmodell von Hedgefonds. Einen Index wie Dow oder Dax gibt es für sie nicht. Formal siedeln sie eben meist in Steueroasen. Über 500 Milliarden Dollar an Krediten wurden allein an Fonds auf den Kaimaninseln vergeben. In den OECD-Staaten, wo schließlich ihr Business abläuft, genießen sie nahezu Narrenfreiheit. Experten erachten ihre hohe Profitabilität weithin für Kosmetik. Auch verheerende Fehlspekulationen und prominente Betrugsfälle haben den Ruf dieser Branche arg ramponiert.
Derzeit verwalten Hedgefonds vermutlich Vermögen um 1600 Milliarden Dollar (das entspricht etwa Zweidritteln des deutschen Volkseinkommens) und zeichnen für ein Drittel des gesamten Aktienhandels in den USA verantwortlich. Für ihre bestbezahlten Manager werden Bezüge über der Milliardengrenze berichtet. In Deutschland wurde der Startschuss für das Hedgefond-Zeitalter im November 2003 mit den Investitionsmodernisierungsgesetz gegeben. („Aufbruch in eine neue Ära“, so titelte damals, am 26.11. 2003, in einer Sonderbeilage das „ Handelsblatt“.) Freilich müssen ihre deutschen Prospekte Warmhinweise ähnlich denen auf Zigarettenschachteln tragen und sie dürften von gleicher Wirksamkeit sein: „Der Bundesminister der Finanzen warnt: Bei diesen Investmentfonds müssen Anleger bereit und in der Lage sein, Verluste des eingesetzten Kapitals bis hin zum Totalverlust hinzunehmen.“ Inzwischen wachsen die Ängste. Doch derzeit gibt es keine Chance, den Geist in die Flasche zurückzubekommen. Beim G8-Gipfel in Heiligendamm wurde von Bush und Blair jede Hedgefond-Debatte abgeblockt, mit Rücksicht auf die Finanzplätze New York und London, wo deren Geschäft sich konzentriert. Nicht mal über Selbstverpflichtungen zu einer verantwortlichen Geschäftsführung konnte geredet werden, obgleich der Internationale Währungsfond seit drei Jahren schon vor Risiken warnt. Der Chef der Fed New York befand: „Es ist ja nicht so, dass wir Leute, die in Hedgefonds investiert haben, davor schützen sollen, Geld zu verlieren.“ Doch das Banken- system vor einem Zusammenbruch zu schützen, wie er beim Kollaps des „Long Term (!) Capital Management“-Fonds gerade noch um Haaresbreite verhindert worden ist, das wäre schon sein Job.
Experten halten es für dringlich, Hedgefonds zur rechtlichen Ansiedlung in einem OECD-Staat zu zwingen. Zudem sind sie ohne Zusammenarbeit mit den Banken handlungsunfähig und die unterstehen zumindest formalrechtlich noch immer staatlicher Aufsicht. Kreditbeschränkungen für Hedgefonds wären durchsetzbar. Auch ohne und gegen die USA könnte die EU hinreichenden Druck ausüben, doch sie will und wird nicht. Zuständig ist der irische Kommissar McCreevy und Irland verdankt seinen atemberaubenden Boom weithin seiner Attraktivität als Steuer- und Regulierungsoase. 2005 hat McGreevy eine Expertengruppe der EU für „alternativ Investments“ berufen. In der sind ausschließlich Investoren vertreten.
Doch wieso führt die Geldschwemme, die Vermögensexplosion in der Oberschicht, zu Verschuldungpyramiden, zur Zahlungsunfähigkeit von Banken und zur Gefahr eines Zusammenbruchs des Weltfinanzsystems infolge von Kettenpleiten? Geld ist heute in den Händen von Banken und Fonds alles andere als ein knappes Gut, sondern im Überangebot. Zum rapide wachsenden Reichtum von Multimillionären und sonstigen Leistungsträgern kommen die Ersparnisse privater Altersvorsorge, die man sich im Zuge der politisch programmierten Hysterie einer demografisch bedingten Altersarmut und aufgrund der realen Einschnitte bei staatlichen Renten vom Munde abspart. Geld will verborgt werden. Es soll, es muss Gewinn einbringen. Es wird Kreditkunden angeboten und aufgedrängt wie Frischfleisch am Haltbarkeitsdatum. Deshalb die niedrigen Zinsen. Deshalb werden wachsende Risiken in Kauf genommen. Allein der Markt für Kreditderivate – das sind vereinfacht gesagt Wetten auf die Bonität von Schuldnern – übersteigt mit 26 Billionen Dollar die Wirtschaftsleistung der USA um das Doppelte. So entsteht infolge der Risikofreudigkeit das Paradoxon, dass gerade aufgrund der Geldschwemme große Akteure zusammenbrechen, spekulativer Missgriffe wegen, ihre kreditgebenden Banken mitreißen, Banken selbst im täglichen Routine-Interbanken-Kreditgeschäft die Schotten dicht machen, wie jetzt im September, damit einen Schub weiterer Insolvenzen auslösen, kleine Leute um ihre Ersparnisse zittern und nur schnelles Eingreifen der großen Zentralbanken die Lawine bremst.
Dass es für Anteilseigner von Firmen profitabel sein kann, diese zu ruinieren, ist eine noch nicht sehr alte Erkenntnis. Sie steht hinter der Aufregung um die Public-Equity-Fonds. Deren Vergleich mit einer gefräßigen Insektenart ist so fest bereits in der öffentlichen Meinung verankert wie kaum ein anderes Pauschal- und Vorurteil. PE-Investoren kaufen hohe Anteile an Firmen über die Börse oder direkt von den Besitzern (Fall Grohe und Märklin). Wie Hedgefonds arbeiten sie mit nur wenig eigenem Geld, also mit extrem hohen Kreditanteil, sind kaum transparent, kassieren drastische Gebühren und glänzen mit eindrucksvollem ausgewiesenem Gewinn. Sofern sie sich mit Venture-Kapital in High-Tech-Firmen engagieren, gilt ihr Wirken als segensreich, wenn sie runtergekommene Traditionsfirmen stabilisieren, desgleichen. Das miese Image dieser Branche rührt aus der Brutalität, mit der sie oft aufgekaufte Firmen ausschlachten, als Cash Cows leer melken, sie zu massiver Verschuldung zwingen, sich Barbestände, Eigenkapital und auch neu aufgenommene Kredite als Sonderdividenden ausschütten lassen, damit innovatives Potential zerstören, das Management feuern oder mit ihm in einer Rüdheit umspringen, wie das in Kontinentaleuropa bislang unbekannt war, und die halbruinierte ausgelutschte Firma dann wieder verscheuern. Letzteres setzt offenbar eine gewisse Blödheit der Käufer voraus, die sich von den Traumprofiten der Vorjahre blenden lassen. Auch der Umgang mit Arbeitsplätzen und Beschäftigten ist eine historisch neue Erfahrung. Blackstone, KKR (Kohlberg Kravis Roberts), Cerebus, Goldman&Sachs und die Texas Pacific Group sind die prominentesten dieser Heuschrecken. Sie halten etwa 55 Prozent des Vermögens aller PE-Fonds. „Buy it, strip it, flip it!“ ( Kaufen, Plündern, Wegschnippen) gilt als Leitstrategie.
Die Branche wächst explosiv. Blackstone, 1985 mit 400 000 $ Startkapital gegründet, hält heute Beteiligungen von 88 Mrd. $, auch die deutsche Telekom ist darunter. Ihr Kapital sammeln sie von privaten Anlegern, oft Pensionsfonds und sonstigen Rentenkassen, meist aus den USA. Diese freilich gehen neuerdings aus Sorge über die riskanten Strategien auf Distanz. Es sind die PE-Fonds, die den Schub von Fusionen und Übernahmen der letzten Jahre vorangetrieben haben. Die fünf größten Aufkäufe 2006 in Deutschland – Pro Sieben/Sat 1, Karstadt Quelle, Altana Pharma , Kion (zuvor Linde) und Europcar – waren zu 93% kreditfinanziert.
Fast eine Million Menschen arbeiten in Deutschland bereits in von PE-Fonds kontrollierten Firmen. Es sind die internationalen Finanzmärkte, die heute die Arbeitsbeziehungen und Verteilungskämpfe bestimmen. 3,1 Mrd. Dividende bei der Telekom und zugleich 500 Mio. Einsparungen bei den Löhnen – der Einstig von Blackstone zeigt Wirkung. Entgegen der Legende ist weder eine positive Wirkung von PE-Engagements auf die Produktivität noch auf die Konjunktur erkennbar. Für die deutsche Arbeitswelt bringt ihr Vordringen einen Kulturschock. Die epidemische Ausbreitung von Leiharbeit und unbezahlten Überstunden, der niedrigste Lohnanteil am Volkseinkommen seit den frühen 70er Jahren – hinter all dem steht der Druck von Finanzmärkten auf kurzfristige Durchsetzung extremer Renditen.
Als Paradigma für den Umgang von PE mit übernommenen Firmen gilt das Schicksal der Grohe AG ( Weltmarktführer von Sanitärarmaturen). Das Unternehmen stand bis dahin blendend im Geld und galt als seine eigene Bank. Nach dem Aufkauf durch BC Partners wurde die Eigenkapitalquote von ca. 50 auf 6 Prozent (2004) runtergebracht. Der Kaufpreis von wohl 900 Mio. € wurde zu ca. neun Zehntel über eine Neuverschuldung der Firma aufgebracht, Eigenkapital durch Anleihen mit einem Zinssatz von 11,5 % ersetzt. Die Anlageinvestitionen wurden halbiert. 500 Jobs gestrichen. Nach einem Jahresüberschuss 1994-98 von im Mittel 50 Mio. € fielen seit 2000 Verluste an. 2003 mussten 71 Mio. € für Zinsen gezahlt werden. Standard&Poor´s stufte Grohe auf B+ zurück – vier Grad unter dem Niveau für zuverlässige Schuldner. 2004 wurde die völlig verschuldete Firma an die Texas Pacific Group und die Credit Suisse First Boston weiterverkauft. Inzwischen gilt sie als stabilisiert und erreichte 2006 eine Umsatzrendite von 18 %. Ursache dafür, dass sich die Firma wieder fangen konnte, ist deren hervorragende Marktposition und die hohe Produktqualität. Grundsolide Unternehmen vermögen bisweilen eben sogar einen PE-Investor zu überleben.
Pro Sieben/ Sat1 musste nach Aufkauf durch Premira und KKR 1,25 Mrd. € an Sonderdividende ausschütten. Die Tank&Rast, einst im Bundesbesitz, 1998 an drei Investoren verkauft, ging 2004 für 1,1, Mrd. € an Terra Firma, musste sodann 1,2 Mrd. an neuen Schulden auf- und eine Sonderausschüttung von 400 Mio. € vornehmen. Binnen zwei Jahren wurden die Pachten für die Tank- und Raststättenpächter in etwa verdoppelt, mit Folgen für die Brötchen- und Kaffeepreise in den Raststätten. Die Deutsche Börse musste nach Einstieg von The Children Investment 1,4 Mrd. € für Sonderdividenden und Aktienrückkäufe verplempern – Mittel, die für die Übernahme des London Stock Exchange geplant waren. Die wurde von den neuen Herren aus überteuert untersagt und das Topmanagement gefeuert. Seither stieg der Marktwert des verschmähten LSE um 1,55 Mrd. Pfund auf das Zweieinhalbfache.
Firmen mit starkem Engagement in Forschung und Innovation halten oft hohe Barbestände. Denn es gilt als schwierig, Forschung fremdzufinanzieren. Doch ihrer Barmittel wegen sind sie Ziel von Buy Outs. Mit Ausschüttung dieser Geldreserven wird den Firmen Innovationspotential und Zukunft geraubt und der Volkswirtschaft desgleichen. Wirtschaftsnobelpreisträger Solow und sein Team sehen in diesen feindlichen take over eine Hauptursache für den Verlust der Konkurrenzfähigkeit vieler US-Firmen und für das Schrumpfen der Industrie in den USA und Großbritannien. Nunmehr infiziert diese Perversion von Marktwirtschaft auf breiter Front den alten Kontinent. Auch hier steht nunmehr ein Deindustrialisierungsschub bevor, getrieben durch extreme Renditeforderungen und riskante Kapitalstrukturen. In den übernommenen Firmen steigt kurz davor und hernach meist die Produktivität eindrucksvoll an. Vier bis fünf Jahre danach bricht sie drastisch ein. Doch dann sind die PE-Investoren meist wieder auf und davon. Bei den Quick Flips – Wiederverkauf binnen Jahresfrist – stürzt der Börsenwert hernach im Schnitt um 18 Prozent. Die Manager der PE-Fonds freilich verdienen exorbitant. Blackstone-Chef Stephen Schwarzmann kassiert jetzt ein Jahresgehalt von 400 Mio.$ – mehr als die Chefs aller 30 DAX-Firmen zusammengenommen.
Immerhin ein Fall erfolgreicher Abwehr sei hier berichtet. Die Cewe Color AG Oldenburg, mit 3000 Arbeitsplätzen und 19 Standorten Europa Marktführer im Foto Finishing, wurde seit 2005 von Hedgefonds attackiert. Viermal forderten die neuen Minderheitsaktionäre vom Vorstand schriftlich eine Sonderdividende, immerhin vom Vierfachen der normalen Ausschüttung. Der Vorstandschef wurde nach New York einbestellt. Der Gesprächspartner holte aus dem Schrank ein Gewehr, legte das übers Knie und versicherte: „Vorstandsvorsitzende, die nicht mitspielen, schießen wir ins Bein.“ Alles, was danach an Kommunikation folgte, lag jenseits dessen, was man noch als raue amerikanische Scherzhaftigkeit hätte verstehen können. „Einschüchtern, Drohen, Verleumden, Anzeigen“ – so charakterisierte Vorstandschef Hollander das Vorgehen seiner neuen Anteilseigner. Die Wirtschaftspresse schrieb von einer dramatischen Schlammschlacht. Vorstand und Aufsichtsrat sollten gefeuert werden. Doch die kauften selbst Aktien zusammen und sorgten dafür, dass die firmeneigene Rentenkasse ein Aktienpaket erwarb. Zugleich stieg die Landesbank NordLB als Großaktionär ein. Auf einer dramatischen Hauptversammlung im April wurde die Satzung geändert. Nur noch mit Dreiviertelmehrheit können seither Vorstand und Aufsichtsrat gefeuert werden. Die Hedgefonds gaben auf. Zwei Millionen hat der Abwehrkampf gekostet. Die Unterstützung durch das Land wird dabei keine geringe Rolle gespielt haben. „Wir können uns jetzt wieder um das operative Geschäft kümmern, um das, wofür wir eigentlich da sind“, so der sichtlich mitgenommene Vorstandschef im Oktober auf einer Konferenz in Berlin.
In England sehen sich PE-Manager inzwischen als „neue Herren des Universums“ und Jobkiller Kampagnen und zunehmender Aggressivität ausgesetzt. Der „Independent“ diagnostizierte hier unlängst die „hässliche Fratze des Kapitalismus“. Permira-Chef Damon Buffini bekam zu Beginn eines Wohltätigkeitsdinners in London eine Kotztüte überreicht. Beim berühmten Rockfestival in Glastonbury wurden acht PE-Manager in einer „Galerie der Firmenplünderer“ mit überlebensgroße Fotos an den Pranger gestellt. Die PE-Branche selbst redet von wenigen schwarzen Schafen. Offenkundig ist wohl eher von einer schwarzen Herde mit einigen weißen Exemplaren zu sprechen, die sich in Venture Capital engagieren oder schlecht gemanagte Firmen auffangen. Die Kluft zwischen den Interessen der Volkswirtschaft und der Investoren in den Folgen feindlicher Buy Outs durch PE ist evident. Auch in der deutschen PE-Branche wachsen die Sorgen um ihr miserables Image. „Wir müssen gesellschaftlich akzeptiert sein und das sind wir heute ganz sicher nicht“, so Thomas Krenz von der Partner Permira am 19. September in Berlin in der Dresdner Bank. Das Aussaugen von Unternehmen schlage auf die Politik durch, sekundierte Peer Steinbrück. Wenn die Branche das nicht in den Griff bekäme, würden das andere tun. Ja, wer denn? Wie denn? Diese Koalition vielleicht?
Wirksame politische Reaktionen sind offenkundig nicht zu erwarten. Beschränkung des Rückkaufs eigener Aktien auf fünf Prozent pro Jahr, Stimmrechte erst nach Aktienbesitz von einem Jahr, Obergrenzen für die Kreditvergabe von Banken an PE- und Hedgefonds zur Finanzierung feindlicher Übernahmen, Beschneiden von Steuerprivilegien, etwa die Abschaffung der in Deutschland erst von Rotgrün eingeführten Steuerfreiheit der Gewinne aus dem Verkauf von Beteiligungen, Zwang zur Ansiedlung „on shore“, außerhalb von Steueroasen – alles kein Thema. Schließlich hat in England Gordon Brown ihnen als Schatzkanzler selbst das Privileg eines steuerlichen Sonderstatus gewährt. Und der Entwurf zum deutschen Risikobegrenzungsgesetz, das ab Januar greifen soll, ist bereits wieder entscheidend verwässert worden. ( So muss das „acting in concert“ – das abgekartete Zusammenspiel mehrerer Fonds im Manipulieren einer Firma – bereits beim Aktienkauf nachweisbar sein, um legal angreifbar zu werden. Die Transparenzgebote dieses Gesetzes erreichen nicht einmal das in den USA gegebene Niveau.)
Doch was hat all das mit Entstaatlichung zu tun? Angesichts des Agierens von PE- und Hedgefonds und der Perversionen auf den Finanzmärkten, die hinter der Subprime-Loan-Krise stehen, darf bezweifelt werden, dass die hidden hand der freien Konkurrenz hier noch das Gemeinwohl optimiert. Nach tradierter Sicht fällt es dem Staat zu, das gesamtkapitalistische Interesse gegen die Interessen der Einzelkapitalisten durchzusetzen. Das wird immer weniger geleistet und leistbar. Wer rettet den Kapitalismus vor den Kapitalisten? – diese scheinpolemische Frage trifft heute den Kern des Problems. Kaum eine Regierung wagt es noch, ihr Land gegen auch evident destruktive Entwicklungen abzuschirmen, um nicht in irgendein Hintertreffen zu geraten. Mindestens ebenso stark wie die Erosion des politischen Instrumentariums wirkt dabei der Verfall des Willens, politisch gegenzusteuern – eben das Vordringen marktradikaler Ideologien.
Der Druck hin auf eine volkswirtschaftlich und wachstumstheoretisch noch halbwegs sinnvolle Einkommensverteilung löst sich auf, wenn mit starker Import- und Exportlastigkeit die Kaufkraft im Lande an Bedeutung verliert. In anderen Worten: Dass die Arbeiter von Ford auch Autos von Ford sollen kaufen können, dieses stets etwas metaphorische Argument wird schwächer, wenn bei Ford fast nur noch Autos fürs Ausland vom Band rollen. Dann werden die Gewinne zunehmend spekulativ oder mehr und mehr in den BRIC-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China) angelegt. Dass jede überzogen kopflastige Einkommensverteilung nur die Inflation auf der Kapitalseite hochtreibt, Börsenkurse, Preise von Firmen, Immobilien und Antiken, und dieser Vermögenszuwachs im nächsten Crash schlicht dahin ist – kaum jemand kann oder mag dieser Einsicht irgendwie Rechnung tragen. Die Selbststeuerung der Wirtschaft wird zum Synonym für deren Unsteuerbarkeit. Jedes Abfangen von Depressionen durch Staatsaufträge wird wirkungslos, wenn ein Großteil der Nachfrage ins Ausland abfließt und es schon das EU-Recht gebietet, öffentliche Investitionen und Aufträge europaweit auszuschreiben. Die EU mit einer Exportquote um elf Prozent ist sehr wohl eine hinreichend geschlossene Volkswirtschaft im Sinne von Keynes. Doch die Chance, dass man sich auf eine hinreichend parallele Finanz- und Steuer- und Wirtschaftspolitik verständigt geschweige Brüssel dafür mit Kompetenzen versieht. ist angesichts der nunmehr verankerten Blockaderechte von Minderheiten und der offenkundigen Divergenzen zur Zeit nahe Null.
Harmonisch fügt sich der Privatisierungsschub in die Entwicklungslogik dieser hochdynamischen Epoche. Im frühen 19. Jahrhundert expandierte der Kapitalismus zu Lasten und zum Ruin des heimischen Handwerks, dann im Durchdringen ausländischer Volkswirtschaften. Als die Welt aufgeteilt war und die Interessen aufeinanderprallten, sprach Lenin vom Imperialismus als höchsten und letzten Stadium des Kapitalismus. Das war plausibel, aber falsch. Es folgte die sozialdemokratische Epoche. In nahezu jedem Land des Westens wuchsen Löhne und Kaufkraft mit der Produktivität. Damit war die Wohlstandsgesellschaft geboren. Die zyklischen Nachfragekrisen verloren an Kraft und Bedrohlichkeit. Soweit jedes Land in sich einem ausgewogenen Wachstumspfad folgte, verloren Außenhandelskonflikte ihre existentielle Bedeutung. Gerade deshalb konnte der Welthandel so stark und stürmisch wachsen wie niemals zuvor.
Doch mit der Globalisierung ist eine neue Einkommensverteilung durchsetzbar. Produktivitäts- und Lohnzuwachs wurden entkoppelt. Damit war das Modell einer krisenarmen Wohlstandsgesellschaft mit harmonischem Wachstumspfad dahin. Der Vermögensexplosion auf der Kapitalseite stehen wegen schwacher Kaufkraft und Endnachfrage seitens der Lohnempfänger und derer, die nicht einmal mehr jemand ausbeuten mag, und der ziemlich leeren Öffentlichen Hände keine hinreichenden Motive für produktive Investitionen gegenüber. Das eben verstärkt den spekulativen Kapitaleinsatz – irgendetwas will man ja machen mit seinem Geld und für einen Luxus orientalischer Dimension fehlt unseren Eliten die Phantasie. Die Folge sind „Instabilitäten“, Immobilienblasen, Börsencrashs, Megapleiten, Kriseneinbrüche – all das in einer Dichte, die absehbar die Salonfähigkeit dieses Wirtschaftssystems gefährdet, zu welchem trotz aller sympathischen linken Rhetorik eine halbwegs überzeugende Alternative nicht sichtbar ist.
Die Entlastung mobiler Steuerzahler, Lohnverfall und Arbeitslosigkeit mit ihren sozialstaatlichen Folgekosten sichern die dauerhafte Überforderung und Verarmung der öffentlichen Kassen. Plausible Reaktion ist der Verkauf öffentlichen Eigentums, von Straßen-, Schienen- und Autobahnnetzen, von Elektrizitäts- und Wasserversorgung, von Bildungsstrukturen, Rentenkassen und Krankenversorgung und Abwassersystemen, die Privatisierung von Strafvollzug, Flugsicherung, Seenot- und sonstigen Rettungssystemen, das „Sale and Lease back“ von Rathäusern, Gerichtsgebäuden, Schulen und Ministerien. Damit wird ein Teil der sich auf der Kapitalseite aufstauenden Gewinne nichtspekulativ absorbiert und zugleich die Misere der Öffentlichen Hände zunächst gemildert. Insofern wird die Krisenanfälligkeit reduziert und ein neuer Wachstumspfad vorgezeichnet. Soweit es sich bei den privatisierten Bereichen um natürliche Monopole handelt – kein Konkurrent wird ein zweites Eisenbahn- oder Wasserleitungsnetz neben dem bestehenden bauen – sind Preisschübe vorgezeichnet, die dann von staatlichen Netzagenturen und Regulierungsbehörden kommentierend begleitet werden. Mit steigenden Preisen infolge der Privatisierung natürlicher Monopole wird die Einseitigkeit der Einkommensverteilung forciert. Die nachfolgenden Entwicklungsschübe dieses hochvitalen und zunehmend konkurrenzlosen Wirtschaftssystems sind derzeit nicht absehbar.
Wagen wir uns an einen abstrahierenden Rückblick nebst Gesamtschau und Vision! Staatsmacht besteht aus einem Bündel von Funktionen. Sie erbringt gemeinhin ordnende und materielle Leistungen. Erstere kosten wenig, letztere viel. Nach klassischem Denken ist die Qualität eines Staatswesens daran zu messen, inwieweit es aufgrund seiner Fähigkeit zu Regulierungen auf materielle Leistungen und fallspezifische Interventionen verzichten kann („… ist es der Zweck jeder Regierung, Regierung überflüssig zu machen“, Fichte). Je schlechter eine Regierung regiert, steuert und reguliert, desto mehr Geld braucht sie, um Schäden und Fehlentwicklungen auszugleichen. Deshalb sind hohe Staatsquoten kein Widerspruch gegen den Verfall von Staatsmacht. Die Frage ist nur, wer für dieses Geld aufkommt, eher die Vermögenseliten über Gewinn-, Vermögens- und Erbschaftssteuern oder die Volksmasse mit steigenden Mehrwertsteuern.
Die modernen Staaten haben in ihrer Geschichte eine Abfolge von Entwicklungsstadien durchlaufen. Als Gewaltenmonopol gewährleisten sie inneren Frieden. Kraft der Fähigkeit, militärische Macht zu mobilisieren, bieten sie Schutz vor äußerer Gewalt. Als Nationalstaat verkörpern sie kulturelle Gemeinschaft, bieten Sinn, Ideologie und auf diese Weise Identität. Die Legitimierung des Gewaltenmonopols drängt schließlich auf Rechtsstaatlichkeit. Der Rechtsstaat bringt die soziale Wirklichkeit in eine gewisse Übereinstimmung mit den Gerechtigkeitsvorstellungen seiner Bürger und gerät auf diese Weise in eine Entwicklung, die auf die Inthronisierung des Volkes als Souverän und auf Strukturen hinausläuft, die als Demokratie verstanden werden. Wird als Grundrecht ein Überleben und auch noch in Würde zuerkannt, ist der Sozialstaat vorgegeben. Dessen Finanzierung erfordert eine vitale und besteuerbare Wirtschaft. Als wirtschaftspolitischer Akteur schließlich gewährleistet der Staat Rahmenbedingungen, schafft wirtschaftsnahe Infrastruktur, organisiert komplementäre Einrichtungen und Vorleistungen wie Ausbildung und Forschung, versucht, den Kapitalverwertungsprozess zu harmonisieren und befördert die Belange nationaler Firmen im Ausland.
Vorbedingungen der Erfüllbarkeit staatlicher Funktionen sind Information, formalrechtliche Steuerungskompetenz, Steuerungsfähigkeit, Ressourcenbeschaffung und Sanktionsfähigkeit. All diese fünf Vorbedingungen sind im Zuge der Globalisierung in Frage gestellt. Der Staat verliert gegenüber dem Kapital die Fähigkeit der Steuerung, der Besteuerung, der Information und der Sanktion und ein erblindeter Staat ohne Geld, Kompetenz und Durchsetzungsfähigkeit ist keiner. Der Verlust an Regulierungsfähigkeit gegenüber der Wirtschaft erfordert ein Mehr an Geld, um Regulierungsdefizite durch Sachleistungen abzumildern. Doch zugleich verflüchtigt sich eben die Besteuerungsfähigkeit gegenüber der Wirtschaft. Die Ressourcen mindern sich folglich genau dann, wenn die Ausgabenzwänge steigen.
Auf extreme Belastungen reagieren bestimmte Systemtypen mit Regression. Regression besteht aus dem Verzicht auf Funktionen zum Zweck der kurzfristigen Stabilisierung und ist insofern immer riskant. Denn diese Funktionen sind schließlich in Reaktion auf fortbestehende Anforderungen und Risiken entwickelt worden. Mittels der Regression werden Ressourcen gesammelt und Entscheidungsspielräume erweitert, gegebenenfalls um Entwicklungsschübe vorzubereiten. Politische Regression bedeutet zunächst Verlernen durch Mißerfolg. Ein Staat kann wie jedes regredierende System auch in einer Regression stagnieren oder weiter regredieren. Dies tritt dann ein, wenn trotz oder infolge der Regression die Überforderung sich nicht vermindert. In der Regel jedoch sind Regressionen instabil, weil sie der gewachsenen Komplexität kontrastieren.
Mit dem Verlust von Ressourcen und Regulierungsfähigkeit wird der Staat Leistungen streichen, Kosten verlagern, vermindern, vertuschen, verschieben und sich verschulden. Kosten vertuschen heißt im Normalfall Kosten steigern – Beispiele bietet das „Sale and Lease back“ öffentlicher Gebäude – und beschleunigt die Erosion von Staatsmacht. Ausgehend von der Annahme einer auch künftig politisch nicht bewältigten wirtschaftlichen Globalisierung führt dieses Szenario zu einer Vier-Schichten-Gesellschaft, wo einer kleinen Schicht ultraerfolgreicher Globalisierungsgewinner und einer großen Minderheit mit hohem Verdienst und Lebensstandard eine Mehrheit an arbeitenden Armen und eine wachsende Minderheit an Outcasts, an Deklassierten ohne Chance eines regelmäßig erarbeiteten Lebensunterhalts gegenüberstehen wird.
Die Verbindung der Wähler zu den sie bislang repräsentierenden Parteien löst sich. Die Tragfähigkeit des Images einer Volkspartei setzt Konvergenz voraus und nicht soziale Polarisierung. Es verträgt sich kaum mit schichtenspezifischer Verelendung und Hoffnungslosigkeit. Radikal-populistische Bewegungen werden sich fest etablieren, doch wegen der unzureichenden Überzeugungskraft ihrer Ideen sich diesmal kaum durchsetzen. Ihrem Forderungskatalog freilich wird man aus wahltaktischen Gründen entgegenkommen. Das Nebeneinander von Law-and-Order-Populismus, faschistoider Gewalt, Anarcho-Terrorismus und ermatteten staatstragenden Volksparteien kann sehr stabil sein. solange letztere für die große Mehrheit das kleinere Übel verkörpern.
Antimarktwirtschaftliche Bewegungen gewinnen an Appeal und Versuche, regional und lokal autonom zu bieten, was der Staat nicht mehr leisten kann oder will. Separatismen werden wuchern, Exklavenbildungen, Mikromodelle von Kontrastkulturen, ländliche Subsistenzkommunen, die jedoch im geringeren Maße als in der Vergangenheit vom Wohlstandsüberschuss der Integrierten leben können. Mit lokalen Sozialismen, Geborgenheitsgemeinschaften auf niedrigem Produktivitätsniveau und Kibbuz-ähnliche Formen wird experimentiert werden.
„Legitimation“ bezeichnet den Handlungsspielraum von Regierung, der ihr zwanglos von den Regierten eingeräumt wird. Die Gewährung eines solchen Vertrauens setzt voraus, dass die Regierung in den Augen der Regierten gemäß ihren Werten und Zielen handelt und das hinreichend erfolgreich. Beide Voraussetzungen werden fragwürdig. Die Umverteilung der Lasten bedingt eine Veränderung des Legitimationsprofils von Regierung und insofern eine Umstrukturierung der Macht. Gegenüber dem Kapital wird Macht durch Loyalität und Legitimation ersetzt, gegenüber den Lohnabhängigen schließlich Legitimation durch Macht. Unter dem Druck schwindender Steuereinnahmen und leerer Kassen regrediert der Sozialstaat zum Rechtsstaat und unter dem Druck wachsender Anomie, Kriminalität und Gewaltbereitschaft wird es Übergangstendenzen geben vom Rechtsstaat zum Staat als bloßem Gewaltmonopol.
Analytisch mag man vier Grundtypen der Bewältigung von politisch-sozialen Krisen unterscheiden: schwacher Veränderungsdruck bei starker Lernfähigkeit führt zum Triumph konservativer Reformen (Beispiel Bismarcks Sozialgesetze), starker Veränderungsdruck bei starker Lernfähigkeit zu reformativen Entwicklungsschüben (Beispiel New Deal), schwacher Veränderungsdruck bei schwacher Lernfähigkeit zur Stagnation (Beispiel Spätphase des römischen Reiches, das aufgrund der Politikverdrossenheit seiner Bürger nach und nach einfach zu bestehen aufhörte) und starker Druck bei schwacher Veränderungs- und Lernfähigkeit zum Sturz der politischen Ordnung, zu „Revolution“ – was immer man darunter verstehen mag – zu Zusammenbruch oder Systemperversion. In dieser Typologie würde das Szenario auf die letztgenannte Alternative zusteuern.
Prognostizieren lassen sich Probleme und mit geringerer Verlässlichkeit Reaktionen darauf und folglich Konflikte, kaum jedoch deren Lösungen. Das Negativszenario lebt von einer nur vermeintlichen Aussichtslosigkeit, die freilich zur politikbestimmenden Kraft werden kann. Erst die von der veröffentlichten Meinung erzeugte Alternativenblindheit führt ins Aussichtslose. Die Alternative starker Lernfähigkeit unter starkem Veränderungsdruck verlangt einen Entwicklungsschub der politischen Systeme – die Rekonstruktion der den Nationalstaaten entschwindenden Fähigkeiten auf supranationaler Ebene, eben die Herausbildung von Elementen eines „Global Government“. Die Einigung Europas in einer handlungsfähigen Union bietet die einzige, derzeit nur karge Chance, in einem ersten Schritt den Machtverlust von Staaten auszugleichen und dieses singulär vitale Wirtschaftssystem gemeinwohlfähig zu halten. Und nur die EU kann mit NAFTA, ASEAN und anderen Großregionen die notwendigen Strukturen aushandeln, mit denen wirtschaftliche, soziale und ökologische Prozesse miteinander ausbalanciert werden können. Es sind nicht Chinesen und Inder, es sind von staatlicher Aufsicht entfesselte Finanzmärkte, von denen die westliche Wohlstandsgesellschaft derzeit zugrunde gerichtet wird. Bei hinreichender Unfähigkeit der Nationen des Westens zur Zusammenarbeit sind die industriellen Reservearmeen des Südens überhaupt nicht erforderlich, um uns ins Elend zu manövrieren.
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