(leicht aktualisiert 28.10.07)
Es gibt sie nicht. Das ist die gute Nachricht. Nun die schlechte Nachricht: Man kann sie künstlich erzeugen. Und genau das geschieht. Die folgenden Thesen werden hier entwickelt und belegt:
– Die demografische Perspektive ist keineswegs extrem bedrohlich.
– Es besteht deshalb weder eine Notwendigkeit für den Großteil der in den letzten fünf Jahren beschlossenen Rentenkürzungen, noch für die angekündigten Reformschritte der Einführung eines Nachholfaktors und aus Finanzierungsgründen zu einer Anhebung des Rentenalters.
– Nicht demografische Sachverhalte bedrohen uns mit Altersarmut, sondern politische Reaktionen auf überzogene Globalisierungsängste – oder eben die Instrumentalisierung dieser Ängste zur Umverteilung des Volkseinkommens.
– Die bislang beschlossenen oder angekündigten Rentenreformen erzeugen eine Altersarmut, welche in ihrer Dimension in der Öffentlichkeit bislang nicht wahrgenommen worden ist. Diese politisch einprogrammierte Altersarmut gefährdet die soziale Stabilität.
– Die Strategie der Förderung einer kapitalgedeckten Privatvorsorge kann die demografische Problematik nicht abmildern. Volkswirtschaftlich ist sie schädlich und sozialpolitisch nicht zu verantworten.
– Wir stehen nicht vor einer Alterskatastrophe, sondern vor einer Ausbildungs-, Arbeitsmarkt- und Lohnkatastrophe.
– Es existieren hinreichende Handlungsoptionen, um den demografischen Herausforderungen in sozial zumutbarer Weise gerecht zu werden.
DAS GESPENST DER DEMOGRAFIE
Die Menschen leben länger und die Kinderzahl sinkt. Die Bevölkerungspyramide wird zum Pilz, man liest es allenthalben. Nur 1,3 Kinder pro Frauenleben vermeinen die Statistiker noch erwarten zu können. Der „Altersquotient 20/65“ (65jährige und Ältere je 100 Personen im Alter von 20 bis 65) steige von derzeit 32 über 52 im Jahr 2030 auf 60 im Jahr 20500 Was der Sturm der Globalisierung an Wohlstandsresten belässt, zerbröselt offenbar im Zangengriff von hedonistischer Zeugungsverweigerung und sich hochschraubender Lebenserwartung.
Die vorgeblichen Konsequenzen werden zu immer krasseren Verarmungsvisionen verdichtet. ( Ein jeder Trend führt in die Katastrophe, sofern man ihn nur lange genug in die Zukunft fortschreibt.) Kampagnenhaft bereitet die Politik die Menschen auf das Schicksal einer Art völkischer Verelendung vor und kürzt mit einer Kaskade kunstvoller „Anpassungen“ die Renten zusammen. Zur Milderung des Elends im Alter soll bekanntlich ein jeder privat vorsorgen. Niemand hat mittlerweile soviel Angst vor Armut im Alter wie die Deutschen. Das zeigt eine im März vorgelegte Umfrage von Emnid in 6 Ländern, in Italien, Spanien, Frankreich, England und Polen. Dabei sind die alten Menschen in Deutschland derzeit zufriedener als die Rentner in den anderen Ländern. Ihre Lage ist so gut und zugleich doch die Erwartung so schlecht wie nirgendwo sonst. Nicht nur Altersarmut sitzt als Albtraum im Genick. 80 Prozent aller Deutschen sehen ihre finanzielle Zukunft mit Sorge. Jeder zweite hat Angst vor Arbeitslosigkeit und rechnet mit massiven Verschlechterungen bei der sozialen Absicherung. In England dagegen blickt nur jeder fünfte und in Frankreich nur jeder neunte so schwarz in die Zukunft. Wie erklärt sich diese Angstdiskrepanz?
In keinem anderen wie gerade in der weltführenden Exportnation sind die Menschen einer solchen Negativkampagne ausgesetzt worden, wie runtergekommen ihre Heimat als Wirtschaftsstandort sei und wie finster ihre Zukunft. Offenkundig wurde damit eine Atmosphäre von Lähmung und Apathie erzeugt. Bei der einschlägigen Pressekonferenz von Emnid im März (2006) in Berlin befand Meinhard Miegel – der Nostradamus einer deutschen Sozialkatastrophe– die Deutschen seien im Unterschied zu anderen Völkern keine Pessimisten, sondern nur Realisten. Alle soziale Absicherung werde auf das Existenzminimum schrumpfen; künftig werde Wohlstand nur noch bedeuten, abends schmerzfrei ins Bett gehen zu können. Auf die Frage, wie man für so etwas Wählermehrheiten bekommen wolle, entgegnete Meinhard Miegel, das sei gar nicht mehr erforderlich. Alles sei schon beschlossen, nur die Öffentlichkeit habe das noch nicht gemerkt. Man müsse nur all die Rentensenkungen wie Nachhaltigkeitsfaktor und Nachholfaktor so über einige Zeit wirken lassen. Dann bliebe nur ein Existenzminimum übrig. Das trifft offenbar zu. Die Altersarmut der nur gesetzlich Versicherten ist bereits gewährleistet. Welches Ausmaß sie etwa haben wird, darauf wird unten zurückzukommen sein. (Dabei ist anzumerken, das auch das Sozialhilfeniveau sich nicht mehr nach einem bestimmten Warenkorb bemisst, sondern indiziert ist, mithin mit den Renten steigen und fallen kann.) Deshalb werden wir jenseits der beiden angekündigten fundamentalen Kürzungen – Rente 67 und Nachholfaktor – von weiteren Einschnitten bei der gesetzlichen Rente zumindest aus dieser Koalition heraus nichts mehr hören. Der Bedarf ist gestillt.
Doch es ist einer genaueren Prüfung Wert, welches Ausmaß an Belastungen uns die demografische Entwicklung in der Tat aufbürdet und welche Chancen der Bewältigung wir haben. Heute bereits stehen den 20,1 Millionen Rentnerinnen und Rentnern in Deutschland nur 26,8 Millionen versicherungspflichtig Beschäftigte gegenüber. Das ist ein Verhältnis von 75:100 und es wird, wenngleich nicht mühelos, geschultert. Der für 2030 vorausgesagte so bedrohliche „Altersquotienten 65“ von Menschen über 65 zu denen im Alter von 20 bis 65 liegt bei 52:100. ( 2050 60:100, Jugend- und Altenquotient, d.h. bis 20 und ab 65, 2005 64, 2030 80 und 2050 89 zu 100; freilich erreichte dieser Jugend- und Altenquotient bereits 1970 mit 78 nahezu den für 2030 prognostizierten Wert ). Nun stehen bekanntlich nicht alle Menschen im Arbeitsalter im Beruf. 78 Prozent der Altersstufe 20-65 sind heute „Erwerbspersonen“ (dazu zählt man auch die Arbeitslosen). Die 26,8 Millionen beschäftigten Beitragszahler tragen dabei jedoch noch über die Arbeitslosenversicherung Rentenbeiträge und Lebensunterhalt für etwa 1,3 Millionen Arbeitslosengeld-I-Empfänger (und sie tragen zum Lebensunterhalt von etwa 2,5 Millionen arbeitsfähigen Hartz-IV-Empfängern bei).Damit ergibt sich bereits für heute ein Verhältnis von 80:100 zwischen Rentern (ohne Waisenrentner) plus Arbeitslosengeld-I-Empfängern zu
Beitragszahlern. Unterstellt man vorsichtig für 2030 nur die gleiche Erwerbspersonenquote 20/65 wie heute von 78 Prozent, so folgt für diese Zeit ein Verhältnis von 66:100 von Älteren zu Erwerbspersonen 20/65. Das heute bestehende Verhältnis von Empfängern von Altersrentnern und Arbeitslosengeld-I-Empfängern zu sozialversicherungspflichtig beschäftigten Beitragszahlern von 80:100 liegt damit über dem für 2030 vorausgesagten und als dramatisch eingestuften Niveau von Älteren zu Erwerbspersonen 20-65.
Angenommen ist dabei, dass die Erwerbsfähigen dann auch fast alle Arbeit haben, die Arbeitslosigkeit mithin dezimiert wird. Das ist sinnvoll, weil das zentrale Argument aller Bedrohungsszenarien zur „Alterskatastrophe“ ein Mangel an Arbeitskräften ist. Erkennbar ist der demographisch bedingte Engpass an Menschen im Erwerbsalter ein bloßes Hintergrundproblem, solange diejenigen in Lohn und Brot noch für Millionen Menschen in offener oder verdeckter Arbeitslosigkeit aufkommen, anstatt dass auch diese Menschen Rentenbeiträge erarbeiten können.
Mitunter wird eingewendet, eine bloße Schrumpfung des Volkes verändere nicht die arbeitsmarktrelevanten Strukturen. Deshalb sei die Annahme, eine Minderung der Erwerbspersonenzahl um x Prozent werde eine Arbeitslosigkeit von etwa x Prozent verschwinden lassen, zu schlicht gedacht. Doch die deutsche Wirtschaft ist so stark exportorientiert wie keine andere große Nation des Westens. Nahezu 40 Prozent des BIP werden über den Weltmarkt erwirtschaftet Weltmarktanteile. Die Annahme; dass Exportmärkte verloren gehen, weil in Deutschland das Erwerbspersonenpotential schrumpft, ist abwegig, solange dieses Potential nicht ausgeschöpft ist. Zum zweiten erzwingt die wachsende Pflegebedürftigkeit neue Arbeitsplätze zu welchen Bedingungen auch immer. Der „Altersquotient 20/65“ von 0,52 wird als Menetekel der Wohlstandsgesellschaft auf die Bildschirme projiziert, als Ergebnis einer bis auf Kommastellen sinnvollen Kalkulation. Das Rentenszenario der Bundesregierung im Kontext der Riester-Reform 2001 vermutet für 2030 1 Million Arbeitslose, der letzte Prognos Deutschland Report 2,1 Millionen oder 5,2 Prozent. Unterstellt man für 2030 eine Arbeitslosigkeit von 5 Prozent bei den Erwerbspersonen, so folgt ein Verhältnis von Älteren zu Erwerbstätigen von etwa 68:100, wobei diese Arbeitslosen dann freilich auch 2030 als zu Alimentierende noch einzubeziehen wären. Auch damit ist ein eher milderes Belastungsverhältnis von aktiven Beitragszahler zu Rentnern absehbar als heute.
Gewiss sind nicht alle der Arbeitslosen für Jobs der Zukunft qualifiziert und geeignet. Doch wir haben Jahrzehnte Zeit, diesen „mismatch“ auf ein Minimum zu drücken.
POPANZ WELTMARKT ALS RENTENKILLER
Mit den bisher in Gesetze gegossenen oder politisch beschlossenen Reformen soll der Beitragssatz zur Rentenversicherung dauerhaft unter 22 Prozent gehalten werden. Das war bereits die entscheidende Zielsetzung der Riester-Reform. Doch warum gilt ein Beitragssatz von 26 Prozent als untragbar, ein Satz von 22 Prozent plus 4 Prozent Privatvorsorge dagegen nicht? Zur Privatvorsorge trägt der Arbeitgeber nichts bei – das allein ist der Kern der gesamten Kampagne. Dass die große Mehrheit diese 4 Prozent zusätzlichen Sparens nicht aufbringt, nimmt man sehr verzögert erstaunt zur Kenntnis. Doch wie eigentlich ist diese Fixierung der Rentenversicherungsbeiträge auf maximal 22 Prozent zu erklären? Ende der 80er Jahre war für 2030 ein Beitragssatz von über 40 Prozent prognostiziert worden – eine in der Tat kaum tragbare Belastung. In einer „großen Reform“ wurden die Rentenansprüche damals bereits drastisch beschnitten. Alle Parteien waren 1989 zufrieden, den Beitragssatz bis 2030 bei 28 Prozent halten zu können. 1997 jedoch durften es nur noch 24 Prozent sein, 1999 nur noch 23 Prozent. Inzwischen sind es bis 2030 22 Prozent und bis 2019 19,9 Prozent. Die demografischen Fakten haben sich in diesen Jahren keineswegs fundamental verändert; die Lebenserwartung wurde etwas nach oben korrigiert. Doch nicht die zu tragenden Belastungen sind ja in den Prognosen gestiegen, sondern es sind die Kriterien gesenkt worden, welche Beitragssätze den Arbeitgebern zugemutet werden sollen. Mitnichten wachsende Einsicht in eine auf uns zu rollende Alterskatastrophe steht hinter den Rentenkürzungen, sondern die politische Entscheidung, Arbeitgeber durch Absenkung von Lohnnebenkosten zu begünstigen und damit Renditen zu steigern. Der Druck auf die Lohnnebenkosten wird mit Globalisierung und internationaler Konkurrenz begründet.
Die deutsche Wirtschaft ächze unter den weltweit höchsten Personalzusatzkosten und das koste Arbeitsplätze, so das gängige Argument. Doch sind die deutschen Personalzusatzkosten wirklich außer Proportion? Weil genau diese These die Triebkraft hinter der gesamten Reformdynamik im Rentenbereich ist, sei sie hier nicht ungeprüft akzeptiert. Nach Erhebungen des Instituts der deutschen Wirtschaft für 2006 liegt ihr Anteil an den Kosten einer Arbeitsstunde im Verarbeitenden Gewerbe in Westdeutschland bei 42,9 % und damit niedriger als in Belgien (47,6 %), Österreich (46,8 %), Frankreich (50,7 %) , Italien (46,1 %), Spanien (46,5 %), Schweden (43,5 %), Ungarn (46,5 %) und Tschechien (44,0 %) und nur wenig höher als in den Niederlanden (42,6 %), Finnland (41,5%) und der Slowakei (42,5 %) Ihr Anteil an den Arbeitskosten bewegt sich damit in Westdeutschland im Rahmen dessen, was in vergleichbaren Staaten üblich ist. Für Ostdeutschland vermeldet das IdW einen Anteil der Personalzusatzkosten an den Arbeitskosten von nur 39,5 %. Deutlich niedriger als in Westdeutschland liegt dieser Anteil in Nationen, die ihr Sozialsystem zu größeren Anteilen aus Steuermitteln statt aus Beiträgen finanzieren wie in Dänemark, Irland oder in Großbritannien oder die über kein vergleichbares Sozialsystem verfügen wie die USA. Weniger das Niveau der sozialen Absicherung, sondern die Methode seiner Finanzierung erklärt mithin die nationalen Unterschieden in diesen Ziffern. Freilich wird in Großbritannien seit der Thatcher-Regierung ein sehr viel krasseres Ausmaß an Verelendung hingenommen als auf dem Kontinent.
Bewegen sich die Lohnnebenkosten in Westdeutschland auch keineswegs außer Proportion zu den Löhnen, so sind sie dennoch die höchsten der Welt. Das ist eine Konsequenz des deutschen Lohnniveaus, das nominal höher liegt als in anderen Nationen mit einer ähnlichen Finanzierung des Sozialsystems. Dieses Lohnniveau verdankt sich nicht gewerkschaftlicher Maßlosigkeit, sondern den Marktkräften. In der alten Bundessrepublik sind die Tarifabschlüsse meist bescheidener ausgefallen als bei den Handelspartnern in Westeuropa. Die Folge waren wachsende deutsche Handelsüberschüsse und daraufhin wiederholte Aufwertungen oder ein Aufwärtsfloaten der Mark. Damit wurde die Lohnbescheidung durch die internationalen Marktkräfte wieder und wieder kompensiert. Beim Übergang zum Euro hat man mit den Umrechnungskursen weithin Marktstärken und Kaufkraft der Währungen Rechnung zu tragen versucht. Insofern sind die deutschen Löhne und mit ihnen die Lohnnebenkosten von den Kräfte des Weltmarktes und der deutschen Konkurrenzfähigkeit bestimmt. Seit der Fixierung in den Euro haben sich die deutschen Löhne nicht nur sehr viel bescheidener entwickelt als in der Eurozone, sondern auch als in allen anderen westlichen Staaten. Real sind sie gefallen. Nicht zuletzt deshalb verzeichnet Deutschland derzeit erneut den höchsten Handelsüberschuss der Weltwirtschaftsgeschichte.
Fazit: Aus den Zwängen der Globalisierung lässt sich die Notwendigkeit, die Lohnnebenkosten zu drücken, nicht begründen. Auch aus demografischen Sachverhalten ergibt sich kein Zwang zu derart einschneidenden Kürzungen. Damit entfällt die entscheidende Rechtfertigung für die in den letzten Jahren beschlossenen Absenkungen der Rentenansprüche. Demografische Argumente werden zweckentfremdet als Alibi zur Legitimierung von aus anderen Motiven erfolgten Umverteilungen des Volkeinkommens.
DER ABSTURZ
Die einzelnen Reformschritte sind größernteils in den Focus der Medien geraten, doch das wahrscheinliche Ausmaß des gesamten politisch bereits einprogrammierten Rentenverfalls ist kaum wahrgenommen. Witwenrenten gekürzt, Anerkennung der Hochschuljahre ausgeschlichen – soweit traf es zunächst ausgewählte und teils privilegierte Gruppen. Berufsunfähigkeitsrenten abgeschafft, Beiträge für Arbeitslose und damit deren Rentenansprüche zusammengestrichen, dann den vollen Beitrag der Pflegeversicherung den Renten aufgelastet. Schließlich für Neuzugänge ab 1. April 2004 die Rentenzahlung aufs Monatsende verlegt – für die Rentner de facto ein Verlust; für Erben federt es den Wegfall des Sterbegeldes ab. Dazu die diversen Nullrunden.
Doch nun zu den langfristig sich kulminierenden Einschnitten: Zum ersten die Absenkungen im Zuge der Riester-Reform – eben die Einfügung der „Riester-Treppe“ in die Rentenformel. Sie bedingt in acht Schritten zu 0,6 % eine Rentenkürzung um 4,8 % auch für diejenigen, die sich nicht auf ein staatlich bezuschusstes Zusatzsparen für eine Riester-Rente einlassen wollen oder können. Darüber hinaus sinken die Renten, wenn die Beiträge steigen. Zwei Prozent Anstieg des Beitragssatzes z.B. senkt die Renten um 2,5 Prozent. Dann die Einführung des „Nachhaltigkeitsfaktors“ in die Rentenformel. Im Unterschied zu dem von Norbert Blüm 1997/98 eingeführten und von Rot-Grün ungehend wieder abgeschafften Demografie-Faktor werden die Renten nicht nur demografischen, sondern auch den Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt angepasst. Steigt die Arbeitslosigkeit, sinken die Renten. Zumindest dieser Korrektur kann eine gewisse Legitimität zuerkannt werden. Die Absenkungen durch den „Nachhaltigkeitsfaktor“ werden bis 2020 mit 0,2 % und bis 2030 mit 0,3 % pro Jahr auf die Renten durchschlagen. Damit wird das „Netto-Rentenniveau vor Steuern“ von derzeit 52,5 auf 46% in 2020 und auf 43 % bis 2030 absinken. Bei Unterschreiten dieses 43%-Niveaus ist die Regierung verpflichtet, dem Gesetzgeber geeignete Maßnahmen vorzuschlagen. Das Gleiche gilt freilich auch bei einem Anstieg der Beiträge bis 2030 auf über 22 Prozent. Bliebe noch als Ausweg aus diesem Dilemma ein Ausweichen auf größere Zuschüsse aus dem Bundeshaushalt, doch das soll gleichfalls tabu sein. „Denn eine deutliche Aufstockung des Bundeszuschusses könnte die Beitragsbezogenheit der Renten und damit die Eigentumsgarantie der beitragserworbenen Ansprüche in Frage stellen.“ Diese Sichtweise ist insofern verwunderlich, weil die z.B. für 2009 prognostizierte Eckrente seit 1995 reformbedingt um bereits 22 % oder 330 € abgesunken und die Fiktion einer Eigentumsgarantie von Rentenansprüchen etwas fragwürdig geworden ist.
Auch das Verhältnis von Renten zu Nettolöhnen dürfte im etwa gleichen Maße sinken. Es soll sich vor einigen Jahren für den Eckrentner noch bei 70 % bewegt haben. Freilich ist der Eckrentner eine schwindende Spezies. Vollständige Erwerbsbiographien werden selten. Schon heute kommen nur 7,5 % der Frauen und 47,1% der Männer auf 45 Beitrags- und Berücksichtigungsjahre; im Durchschnitt erreichen Frauen 28 Erwerbsjahre. Zugleich sind die Meisten im Leben irgendwie vorangekommen und auch auf der Gehaltsleiter hochgestiegen. Die gesetzliche Rente errechnet sich bekanntlich nun nicht nach dem letzten Gehalt, sondern nach dem Durchschnittseinkommen über das gesamte Berufsleben. Deshalb lagen die Nettorenten schon vor diesen Reformen nicht bei 70 %, sondern eher nahe 60 % des letzten Nettolohnes. Sie dürften auf unter 50 % sinken. Nach Berechnungen des DGB landet ein Durchschnittsverdiener mit 30 Beitragsjahren unter der Sozialhilfegrenze.
Nunmehr tritt der Übergang zu einem Renteneintrittsalter von 67 hinzu. Zumindest auf absehbare Zeit bedeutet er für die Meisten und vor allem für die nicht hoch qualifizierten eine nackte Rentensenkung. Nur 24 % der Menschen zwischen 60 und 65 sind noch in Arbeit und dabei mindestens vier mal mehr Hochqualifizierte als andere. Ältere Geringqualifizierte, die jetzt bereits in diesem Alter fast alle außen vor sind, werden auch nicht infolge einer Heraufsetzung des Rentenalters wieder eingestellt werden. So verlangt der Sozialbeirat in seinem Gutachten zum Rentenversicherungsbericht 2005 diese Heraufsetzung des Rentenalters mit Instrumenten der Arbeitsmarktpolitik zu flankieren. „Nur so kann verhindert werden, dass die Erhöhung des Renteneintrittsalters zu einer versteckten Rentenkürzung führt.“ Die Bundesregierung hat inzwischen ein Programm „50 plus“ angekündigt. Noch niemals haben derartige Programme messbar mehr als Mitnehmereffekte gezeitigt; nur in umgekehrter Richtung, bei subventionierter Frühverrentung, stößt man auf starke Resonanz.
Nicht nur aus diesem Grund trifft die Heraufsetzung des Rentenalters mit besonderer Härte Durchschnittsverdiener und Einkommensschwache. Infolge der in Deutschland sehr unterschiedlichen Lebenserwartung der Einkommenskohorten von bis zu neun Jahren sind die Rentenbezugszeiten für Einkommensschwache nur etwa halb so lang wie für die obere Einkommenskohorte. Damit bekommt jemand mit einer Lebenserwartung von 74 kaum die Hälfte seiner Beiträge als Rente zurück. Er alimentiert mit der anderen Hälfte die Renten der – meist einkommensstarken – Langlebigen. Wäre die Lebenserwartung der unteren Einkommenskohorten ebenso hoch wie in den oberen, so wäre schon jetzt ein Beitragssatz von 22 % vonnöten. Dieses Missverhältnis wird mit der Anhebung des Rentenalters um zwei Jahre noch einmal verstärkt. Jemand mit einer Lebenserwartung von 81 verliert ein Achtel, jemand mit einer Lebenserwartung von 73 ein Viertel seiner Ansprüche.
Die größte Brisanz birgt wohl der in seiner Wirkung bislang wenig durchschaute „Nachholfaktor“, auf den man sich im Koalitionsvertrag geeinigt hat, und das aufgrund seines Zusammenspiels mit den 400 €- und sonstigen Minijobs:
„Die aktuelle schwache Lohn- und Gehaltsentwicklung führt dazu, dass die in der Rentenanpassungsformel enthaltenen Dämpfungsfaktoren … nicht vollständig wirken können. Zur Einhaltung der genannten Beitragssatzsicherungsziele ist es deshalb notwendig, nicht realisierte Dämpfungen von Rentenanpassungen nachzuholen.“
Absolute Priorität hat mithin die Beitragssatzstabilität. Derzeit dürfen nach Gesetzeslage die Eck- oder Standardrenten nominal nicht aufgrund eines Anstieges des Beitragssatzes und des Nachholfaktors sinken, wenn sich daraus gemäß der Rentenformel in Sozialgesetzbuch VI §68 eine Rentensenkung errechnet. Doch diese nicht erfolgten Rentensenkungen sollen künftig nachgeholt werden. Sobald aufgrund nominal steigender Löhne die Rentenformel wieder steigende Renten vorschreibt, bleiben die Renten eingefroren, bis die in den Vorjahren nicht exekutierten Rentensenkungen abgearbeitet sind.
Das erscheint auf den ersten Blick als fair, gerecht und harmlos. Warum sollen die Renten nicht sinken, wenn die Löhne fallen, aus deren Beiträgen sie gespeist werden? Nicht zu rechtfertigende Rentensenkungen ergeben sich aus der folgenden rechtlichen Mechanik: Laut Rentenformel bestimmt sich die jährliche Rentenanpassung, abgesehen von den anderen genannten Faktoren, aus dem Verhältnis der „Bruttolohn- und Gehaltssumme je durchschnittlich beschäftigten Arbeitnehmer im vergangenen Kalenderjahr“ zu der des Vorjahres“. Die Crux liegt in dem unscheinbaren Wort „durchschnittlich“. Steigt oder fällt dieser Quotient um x Prozent, so die Rente und jeder bislang erworbene Rentenanspruch im Folgejahr desgleichen. In die Berechnung dieses Durchschnittslohnes gehen jedoch alle sozialversicherungspflichtig Beschäftigten ein, und zwar mit dem gleichen statistischen Gewicht wie Vollzeitkräfte, egal, wie viel sie arbeiten – auch die Teilzeitkräfte und damit auch die Mini-Jobber mit 400 € im Monat. Ihr Einkommen liegt kaum bei einem Sechstel des Durchschnittslohns. Mit jeder Million neuer Minijobber sinkt der Durchschnittslohn und damit jedermanns Rente um etwa 3 Prozent und die auszukehrende Rentensumme um etwa 6 Mrd. € pro Jahr. Dieser einschneidende und bislang öffentlich kaum wahrgenommene Rentensenkungseffekt dürfte das Hauptmotiv dafür gewesen sein, als man 1999 die Minijobs in einer mühsamen und streitbeladenen politischen Prozedur von der Steuerpflicht befreit und dafür in die Sozialversicherungen einbezogen hat.
Es spricht jedem Rechtsverständnis Hohn, dass jemandes Rente, der sein Leben lang Vollzeit gearbeitet hat, jeweils um etwa drei Prozent sinkt, wenn und nur weil eine Million Minijobber und immerhin doch wertschöpfend in den Arbeitsmarkt eintreten, für die Beiträge gezahlt werden. Dieser rechtliche und logische Widerspruch könnte sehr wohl dem Bundesverfassungsgericht vorgelegt werden. Von allen rentensenkenden Reformschritten ist dieser absehbar wohl der einschneidenste mit dem auf lange Sicht größten Einspareffekt. Dazu freilich braucht es den im Koalitionsvertrag vereinbarten Nachholfaktor im Zusammenspiel eben mit der Berechnung der Rentenentwicklung für Vollzeitkräfte nicht nach der Entwicklung des Durchschnittslohns von vollzeitäquivalenten Arbeitnehmern, sondern von durchschnittlich Beschäftigten. Erst dieser Nachholfaktor sichert, dass der Rentensenkungseffekt der Minijobs nicht mehr durch Einschränkungen beim Absenken der Standardrente teilblockiert wird, sondern über die Folgejahre voll zur Wirkung kommt. Auch alle sonstigen Teilzeitjobs drücken aufgrund ihres Teilzeitcharakters nach der Rentenformel die Renten aller Vollzeitbeschäftigten. Der Trend zu Teilzeitarbeit verstärkt sich und entsprechend fallen die pro Beitrags-Euro erworbenen Rentenansprüche. (Ein jeder Teilzeitbeschäftigter bekommt selbstredend nur anteilige Rentenansprüche gemäß seiner Teilzeit.)
Nach und nach werden auf diese Weise die Renten von der Inflation ausgezehrt. Dieser Effekt ist in den genannten Vorgaben und Prognosen zur Entwicklung des Rentenniveaus nicht berücksichtigt. Denn dieses bis 2030 auf 43 % absinkende Rentenniveau bezieht sich ja auf das Verhältnis zu einem Durchschnittslohn, in dessen Berechnung die Teilzeit- und Minijobs bereits enthalten sind. Franz Müntefering wird darauf zu achten haben, nicht als der „Noske des deutschen Sozialstaates“ in die Geschichte einzugehen. – Selbst die 1-Euro-Jobs der Hartz IV-Empfänger sollten in die Berechnung des rentenentscheidenden Durchschnittslohnes eingehen. Inzwischen freilich ist man übereingekommen, auf die Einbeziehung der 1-Euro-Jobs bei der Berechnung des Durchschnittslohns zu verzichten, „weil sie die Rentenberechnung verzerren“. Die eingangs zitierten Verelendungsprognosen von Meinhard Miegel sind offenkundig nicht ohne Berechtigung – dies freilich nicht aufgrund von demografischen oder weltwirtschaftlichen Zwängen, sondern aufgrund von keineswegs alternativenlosen politischen Entscheidungen.
Zugleich werden die Renten durch die „Tertiärisierung“ gedrückt. Recht gut bezahlte Industriejobs verschwinden. Große Wachstumsbereiche im Servicesektor wie Handel und Gastronomie entlohnen dürftig. Meist kleine Firmen, scharfe Konkurrenz, prekäre Arbeitsverhältnisse, geringe Qualifikation, massives Überangebot an Arbeitskräften, schwache Gewerkschaften, Schwarzarbeit, Studenten, Hausfrauen und sonstige Nebenjobber – das gewährleistet Bescheidenheit. Im Zuge dieses Strukturwandels kann der Durchschnittslohn in Deutschland selbst dann fallen, wenn jedermanns Lohn steigt. So sind 1995-2005 inflationsbereinigt die Bruttolöhne im Produzierenden Gewerbe um 8,7 % und die Tariflöhne im Lande um 4,7 % gestiegen, doch die Bruttolöhne pro Arbeitnehmer um real 4,1 % gefallen. Und mit dem Durchschnittslohn sinkt die Eck- oder Standardrente. Das ist hart aber fair, weil aus den Beiträgen von Niedriglöhnern nun mal keine Hochlohnrentner bezahlt werden können.
Ergänzt werden die gesetzlichen Renten bekanntlich durch Betriebsrenten, der „zweiten Säule“ unseres Rentensystems. 15,7 Millionen Menschen sparen derzeit eine Betriebsrente an. Freilich konzentriert sich deren Segen auf Männer, auf große Unternehmen und dort auf die gehobenen Einkommen. In der Privatwirtschaft bekommen Männer im Durchschnitt eine Betriebsrente von 446 €, Frauen von 184 €. In Unternehmen mit bis 99 Beschäftigten liegt die Betriebsrente bei 206 €, in Unternehmen ab 10 000 Beschäftigten bei 621 €. Hochqualifizierte und leitende Angestellt erhalten m Mittel 1210 €, Fachkräfte 175-445 €, Hilfskräfte 134 €. Mithin wird hier mit massiver Förderung durch den Fiskus eine Arbeitnehmer-Aristokratie begünstigt.
DER SOZIALE SKANDAL KAPITALGEDECKTER PRIVATVORSORGE
Der Verfall der gesetzlichen Renten soll durch die privat angesparten staatlich geförderten Renten ausgeglichen werden. Auf lange Sicht wird erwartet, dass sie die Hälfte des Niveaus der gesetzlichen Renten erreichen. Wie heißt es doch in der Begründung zum Altersvermögensaufbaugesetz: „Mit dem breiten Aufbau zusätzlicher kapitalgedeckter Altersvorsorge wird die Alterssicherung auf eine umfassende finanzielle Grundlage gestellt, die es ermöglicht, die Sicherung des im Erwerbsleben erreichten Lebensstandards im Alter zu gewährleisten.“ Befassen wir uns deshalb nunmehr mit deren Segnungen und Widrigkeiten – zum ersten mit den verteilungspolitischen Konsequenzen und zum zweiten damit, ob oder inwieweit das Projekt einer allgemeinen kapitalgedeckten Privatvorsorge überhaupt zur Milderung der demografischen Probleme einer alternden Bevölkerung beitragen kann. Ab 2009 sind es schließlich 4 % vom Bruttolohn, die eigenverantwortlich fürs Alter zusätzlich auf die hohe Kante gelegt werden sollen. Diese privat gesparten vier Prozent werden steuer- und abgabenfrei gestellt. Die untersten Einkommen bekommen, falls sie in der Tat so viel sparen, zumindest 154 € im Jahr hinzu. Der Staat trägt auf diese Weise mit etwa 10 Milliarden im Jahr zur privaten Altersvorsorge bei. Doch auch die Arbeitgeber müssen auf diesen Lohnanteil keinerlei Sozialbeiträge mehr zahlen. Das bringt der Unternehmerseite rund 7 Milliarden Euro pro Jahr an eingesparten Beiträgen und kostet die Sozialversicherungen die gleiche Summe pro Jahr.
Freilich führt die kapitalgedeckte Privatvorsorge zu einer Einkommensverteilung im Alter, die mit dem Wertekosmos unserer Gesellschaft nicht verträglich ist. Die gesetzliche Rente pro Monat ist in etwa dem Lebenseinkommen proportional, für welches Beiträge entrichtet ist. Ganz anders sieht es aus mit den Alterseinkünften aus privater Ersparnis. Die Sparquote – jener Anteil vom Einkommen, den man auf die hohe Kante legt – steigt meist stark mit dem Einkommen. Bei einem Arbeiter mit 1700 € im Monat sind das vielleicht 2 %, bei einem Diplomingenieur mit 5100 € 12 %. Die Ersparnis ist das Produkt aus Einkommen und Sparquote. Der Arbeiter würde demnach 2 % von 1700 € gleich 34 € sparen, der Ingenieur 12 % von 5100 € gleich 612 €. Das Einkommen beider unterscheidet sich um einen Faktor 3, die Ersparnis um einen Faktor 18. Im Ergebnis klaffen die Alterseinkommen desto krasser auseinander, je stärker der Anteil der privaten Kapitalvorsorge sich entwickelt.
Dem sollte der Staat abmildernd entgegenwirken, wenn er die Altersversorgung der persönlichen Sparfähigkeit überantwortet. Doch es geschieht das Gegenteil. Die Beiträge zur privaten Altersvorsorge können von der Steuer abgesetzt werden und das bis zur Beitragsbemessungsgrenze. Auch für den Ehepartner dürfen noch einmal vier Prozent steuer- und abgabenfrei gespart werden, wenn dieser nicht selbst arbeitet. Damit bekommt ab dem Jahr 2008 jemand mit einem Monatslohn von 1500 € zu seiner privaten Altersvorsorge 154 € im Jahr vom Staat dazu, mithin 0,8 % seines Einkommens, ein Single an der Beitragsbemessungsgrenze dagegen etwa 1020 € oder 1,7 % seines Einkommens und ein verheirateter Alleinverdiener, der 8 % Riester-spart, etwa 1550 € oder 2,5 % seines Einkommens (Grenzsteuersatz von 32 % angenommen). Er erhält damit vom Staat eine etwa zehnmal so starke Förderung wie ein Geringverdiener mit 1500 € im Monat.
Offensichtlich werden die Riester-Renten von der Mehrheit nicht angenommen. Ihnen verbleibt damit nur die Senkung der gesetzlichen Renten im Zuge der Riester-Reform. Bei der Einführung der Riester-Renten urteilte Bert Rürup, heute Vorsitzender des Rates der fünf Wirtschaftsweisen, die Förderung einer freiwilligen privaten Altersvorsorge werde nicht zu einer nennenswerten Erhöhung der Sparquote führen: „Es ist ein Mythos, dass durch Einführung einer ergänzenden kapitalgedeckten Alterssicherung – insbesondere in einem Land wie Deutschland – die gesamtwirtschaftlichen Ersparnisse erhöht würden.“ Vor allem bei den höheren Einkommen dürfte es zu Portfolio-Umschichtungen kommen. Die Anleger würden verstärkt in geförderte Altersvorsorgeprodukte investieren und dafür andere Sparformen abbauen. Das zeige die Erfahrung mit anderen Formen der Sparförderung. Diese Prognose scheint sich zu bewahrheiten. 3,9 Millionen Riester-Verträge gab es Ende 2003. Dann kollabierten die Abschlusszahlen. 2004 kamen noch 265 000 hinzu. 2005 waren es 1,4 Millionen. Diesen Anstieg erklärt der Sozialbeirat zum Teil mit einem Vorzieheffekt wegen der Einführung von Uni-Sex-Tarifen ab 2006, die höhere Beiträge für Männer mit sich bringen. Inzwischen ist Bert Rürup freilich zu einem dezidierten Befürworter einer kapitalgedeckten Privatvorsorge geworden.
Nicht einmal jeder Fünfte hat sich bis heute (Frühjahr 2006) bereitgefunden, eine geförderte Riester-Rente anzusparen. Auch die Unsicherheit, mit der Anlagen an Börsen und auf Kapitalmärkten behaftet sind, lässt viele zögern. Immerhin war der deutsche Aktienindex 1999-2002 um 60 % gefallen und der Wert fast aller Aktien des Neuen Marktes praktisch vernichtet worden. Von 112000 Pensionskassen in den USA überlebten 32 000. Auch deutsche berufsständige Rentenversicherungen haben danach ihre Zusagen drastisch reduziert. Von 86 Lebensversicherungen in Deutschland haben den Stress-Test der Bundessanstalt für Finanzdienstleistungen nur 36 bestanden. Und klammheimlich ist der Bund mit Milliarden eingesprungen, um den Kollaps einiger Versicherungen zu verhindern. 91 % lehnen ein Obligatorium zum Abschluss einer Riester-Rente ab. Doch ungeachtet dessen wird eine solche Pflicht zur kapitalgedeckten Altersvorsorge mit zunehmender Eindringlichkeit aus dem politischen Topmanagement der Koalition heraus gefordert.
Für Wachstum und Beschäftigung wäre das Hochtreiben einer kapitalgedeckten Altersvorsorge oder gar eines Zwangssparens eine kaum verkraftbare Belastung. Je mehr gespart wird, desto geringer die aktuelle Nachfrage. Und inzwischen unstrittig ist die schwache Nachfrage im Inland die Hauptursache für die deutsche Wachstumsschwäche und damit auch für die Persistenz der Arbeitslosigkeit. Sie erklärt sich zum Teil aus dem Verfall der Reallöhne, zum Teil auch aus der Angst vor Arbeitslosigkeit.
PRIVATVORSORGE – EIN WIKRUNGSLOSES NULLSUMMENSPIEL
Der sozialpolitische Skandal krass auseinanderklaffender Alterseinkommen und die lähmende Wirkung auf die Volkswirtschaft – beides ist noch nicht das gravierendste Manko eines kollektiven Sparens fürs Alter. Entscheidend ist dessen Wirkungslosigkeit zur Abmilderung des demografischen Problems einer alternden Gesellschaft. Diesem Konzept liegt ein fundamentaler Denkfehler zugrunde. Das pro Jahr in einem Land erzeugte Einkommen wird auf Löhne, Gewinne und Staat verteilt, der damit für Renten, Kindergeld, Polizei, Armenhilfe, Straßen, Schulen usw. aufkommt. Daran kann sich nichts ändern, völlig unabhängig davon, wie das Rentensystem gezimmert ist und die Altersversorgung bezahlt wird. Jede Gesellschaft hat zu jedem Zeitpunkt aus der Arbeit der Arbeitsfähigen die Kinder und die Alten zu ernähren und deren Zahl ändern sich kaum durch einen Wechsel des Sozialversicherungssystems noch durch Ersparnisse welcher Art auch immer. Ob die Versorgung der alten Menschen als Renten, als Zinsen, als Dividenden oder als Sozialhilfe etikettiert und ausgezahlt wird – es bleibt dabei, dass die Arbeitenden deren Altersversorgung erarbeiten. Sie schaffen die Güter und Dienstleistungen dann, wenn sie gebraucht werden. Pflege- und Dienstleistungen kann man nicht speichern und auch Lebensmittel kaum. Wird eine größere Summe des Alterseinkommens als Dividenden ausgereicht, so ist vermutlich der Gewinnanteil am Volkseinkommen höher, folglich der Lohnanteil niedriger, folglich das Beitragsaufkommen der Rentenversicherung niedriger und folglich der als Renten im Unlageverfahren ausgezahlte Teil desgleichen. Letztlich gibt es immer nur ein Umlageverfahren von den Arbeitenden zu den Alten und den Kindern, egal, wie groß zu irgendeinem Zeitpunkt der Anteil von Aktienmärkten und Versicherungen an diesem Umlagesystem ist. Eine Bindung der Renten an die Löhne ist jedoch verlässlicher als deren Vermittlung über Kapitalmärkte. Privatversicherungen verbrauchen im Übrigen 15 bis 25 Prozent der Einnahmen für Verwaltung und Provisionen. Die gesetzliche Rentenversicherung wendet dafür nur 1,5 Prozent der Einnahmen auf und sie muss zudem keine Aktionäre befriedigen.
Schenkt man jedermann 100 000 € an Geldpapier, so ist niemand reicher, nur die Preise steigen. Weder wächst deshalb die Zahl der Arbeitsfähigen noch der Maschinenpark. Doch ähnlich ist die Wirkung, wenn die Sparer einer Altersstufe ihre Ersparnisse auflösen. Wer bis zum Alter mehr angespart hat als der Durchschnitt, der wird im Alter mehr haben als der Durchschnitt. Doch insgesamt bleibt es ein Nullsummenspiel. Als volkswirtschaftliche Lösungsstrategie für das Problem der Versorgung einer alternden Bevölkerung ist eine von fast allen betriebene kapitalgedeckte Altersvorsorge schlicht unsinnig. Ein Verhalten, das für den Einzelnen sinnvoll ist, kann für die Gesamtheit oder die Volkswirtschaft eben sinnlos oder schädlich sein. Denn im Gegensatz zum Geldvermögen der Einzelnen ist das Geldvermögen einer Volkswirtschaft immer gleich Null. Das ist eine rein buchhalterische Identität und eine der logischen Grundlagen der Ökonomie. Auf diesen elementaren wirtschaftswissenschaftlichen Sachverhalt wurde in den 50er Jahren von dem Finanzwissenschaftler Gerhard Mackenroth, der bei der Einführung des intelligenten Umlageverfahrens der Rentenversicherungen Pate stand und Adenauer von dessen Rationalität überzeugt hat, dabei ausdrücklich Bezug genommen.
Anders wäre die Wirkung zusätzlicher Ersparnisbildung, wenn die Wirtschaft unter Kapitalmangel litte, und aus diesem Grund zu wenig investiert würde. Dann würden mit dem Konsumverzicht der Sparer produktive Investitionen finanzierbar und Arbeitskräfte dorthin umgeleitet. Doch nicht nur die deutsche Wirtschaft ist so gut abgepolstert wie selten zuvor. „Sie schwimmen im Geld“, schreibt der Internationale Währungsfond in seinem jüngsten Wirtschaftsausblick über die Unternehmen. 2003 und 2004 hätten die Unternehmen der sieben größten Industriestaaten Ersparnisse von 1300 Milliarden Dollar aufgehäuft, dieses Geld jedoch bislang zu großen Teilen nicht in Produktions-, sondern in Finanzanlagen investiert. Das bringe weder Wachstum noch Jobs, so der Währungsfond.
Im Vorfeld der Riester-Reform hatte das Deutsche Institut für Wirtschaftforschung gewarnt: „Die Folgen einer alternden Bevölkerung können nicht durch den Wechsel des Finanzierungsverfahrens gelöst werden.“
Diese Folgen fallen freilich, wie oben verdeutlicht, weniger bedrohlich aus als in den gängigen Szenarien dargestellt, deren geradezu hysterischer Charakter wohlmotiviert sein dürfte. „Je madiger die Rentenversicherung gemacht wird, desto mehr klingelt das Geld in den Kassen der Privatversicherung. Es ist nicht immer Zukunftssorge, was die Rentenkritiker treibt, sondern häufig sind es handfeste Geschäftsinteressen,“ so unlängst Norbert Blüm. Schon bei der Einführung der Riester-Renten hatte er kommentiert: „Das Umlageverfahren wird verteufelt, das Kapitaldeckungsverfahren heilig gesprochen. Könnte es jedoch vielleicht auch sein, dass die Todesanzeigen für die Rentenversicherung von handfesten Interessen der Versicherungswirtschaft gesteuert werden?“ Und Peter Bofinger, heute Mitglied im Rat der fünf Wirtschaftsweisen, befand: „Die einzige echte Bedrohung des Rentensystems ist nicht die Demographie und eine zu geringe Ersparnis, sondern allein der derzeitige Aktionismus des Hauses Riester.“
Jener alternativenblinde Reformeifer, der den Druck hin auf eine kapitalgedeckte Privatvorsorge bis zum Zwang steigern möchte, ist rational schwer nachvollziehbar. Die Erwerbsquoten der 55-64jährigen liegen in Deutschland bei 39,2 %, in Schweden bei 69,5 %. Auch die Erwerbsquoten der Frauen sind in Deutschland niedrig. Doch schon ein Anstieg der Produktivität von nur 1,2 % pro Jahr lässt ceteris paribus das Volkseinkommen bis 2030 um ein Drittel wachsen und macht folglich auch real um ein Drittel höhere Versicherungsbeiträge leicht bezahlbar. Und als ließe sich durch kinderfreundliche Politik nicht – wie heute in Frankreich oder einst in der DDR – die Geburtenrate kräftig verbessern. In den 80er Jahren, als in Westdeutschland schon deutlich mehr gestorben als geboren wurde, gab es in Ostdeutschland wieder einen Geburtenüberschuss und dies bei einer Frauenerwerbsquote um 90 Prozent (gegenüber etwa 43 Prozent in Westdeutschland). Kinder sind bei uns noch immer ein high-risk-low-profit-investment. Das gewichtete Pro-Kopf-Einkommen liegt bei Familien mit Kindern um ein Drittel und bei Alleinerziehenden um die Hälfte niedriger als bei kinderlosen Paaren. Auch das ist eine spezifisch deutsche Anomalie und sei, wie der soeben vorgelegte Familienbericht spitz vermerkt, „einer politischen Gestaltung zugänglich“. Und als hätten wir nicht die längsten Schul- und Hochschulzeiten der Welt, mit Abitur nahe 20 und Uni-Abgang mit einem Alter um 29, statt um 24 wie international eher üblich. Nicht nur das Austrittsalter aus dem Arbeitsleben, auch als das Eintrittsalter ist ein deutsches Problem. Andernlands werden die Geburten auf die Zeit nach dem Studium verschoben, in Deutschland wird weitgehend darauf verzichtet.
Fazit: Zur Abmilderung der wirtschaftlichen Folgen des demografischen Alterungsprozesses ist eine allgemeine kapitalgedeckte Privatvorsorge zum ersten wirkungslos und zum zweiten, wäre sie nicht wirkungslos, nicht erforderlich. Volkswirtschaftlich bringt sie keinen Wohlstandszuwachs gegenüber einem beitragsfinanzierten Rentensystem. Sie bewirkt freilich eine Umverteilung des Volkseinkommens zugunsten der Gewinne, zulasten der Löhne und krass auseinanderklaffende Alterseinkommen. Politische Handlungsfelder wie deutlich früheres Eintrittsalter ins Berufsleben, Integration von Arbeitslosen, Geburtenförderung, Verbesserung der Frauenerwerbsquote, Einwerben ausländischer Fachkräfte und Arbeitschancen für Ältere lassen den dämonisierten demografischen Wandel als zweitrangig erscheinen.
Doch in der Tat steht zu befürchten, dass die Reaktionen auf die demographische Entwicklung eine Krise der Altersversorgung herbeiführen. Mit der von der Politik verbreitete Angst vor Armut im Alter und vor dem Verlust an sozialer Sicherung wird die Geburtenneigung weiter geschwächt und mit dem Druck hin zum privaten Notsparen die Wirtschaft gelähmt. Nach einer Forsa-Umfrage vom Januar 2005 wollen 40 Prozent der Paare zwischen 18 und 49 kinderlos bleiben. Als Hauptgrund wird Unsicherheit über den Arbeitsplatz angegeben. Anstatt Kinder zu wagen, die vielleicht nach jahrzehntelangen Ausbildungszeiten in der Arbeitslosigkeit landen, sparen die Menschen lieber fürs Alter, nicht ahnend, dass die volkswirtschaftlichen Folgen eines kollektiven Sparschubs dessen Segen zunichte machen. So gerät die spezifisch deutsche Hysterisierung des demografischen Alterungsprozesses zur self fullfilling prophecy.
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