Um die Erfinder neuer Werte dreht sich die Welt“ – so kündet Friedrich Nietz-sche ostinat im Zarathustra. Jesus hat die soziale Innovation der Nächstenliebe in die Welt gebracht. Die Hingabe für Clan, Volk, Reich und Führer, die gab es lange schon. Doch Mitgefühl und Fürsorge für den Nächsten, Blutsunverwand-ten – das war neu. Die Provokation, alle Menschen seien vor Gott gleich, bezog sich keineswegs auf das Jenseits. Es ist fraglich, ob Jesus ein Jenseits im Sinne eines Lebens nach dem Tod je gedacht hat. Sein Handeln war hier und jetzt in einer Weise mitmenschlich, die über die Erfordernisse sozialer Stabilität weit hinausging. Die Antike war eine Welt ohne Nächstenliebe. Die Resonanz des Christentums erklärt sich weithin aus einem solchen Verständnis des Sozialen.
Doch das Gebot der Nächstenliebe gerät in Konflikt mit dem Darwinismus des Marktes. Dieser treibt den technischen Fortschritt voran, bestraft und bremst Vergeudung, forciert Innovationen, und er hat – in Symbiose mit der neuzeitli-chen Wissenschaft – den Wohlstand der Moderne hervorgebracht. Dennoch wurde der Konflikt zwischen dem Gebot sozialer Fürsorglichkeit und der Er-barmungslosigkeit des Marktes in Grenzen gehalten, durch eine Restverbind-lichkeit christlicher Gebote und politisches Management. Der Mechanismus der Konkurrenz führt zum survival of the fittest und sollte zugleich wenig weh-tun. Die Sieger hatten für die Opfer zu sorgen, über Steuern, Sozialabgaben, Spenden, Charity.
Aber die Stimmung kippt. Die Jahrtausendwende atmet das Pathos eines tief greifenden Epochenwechsels und der vollzieht sich in den Herzen der Men-schen. Gier ist geil. „Eure Armut kotzt mich an!“ – diesen Aufkleber konnte man gelegentlich auf Luxusjeeps und ähnlichen Mobiles lesen– moderne, laxe Fassung von Nietzsches Diktum „ Was fällt, das soll man noch stoßen!“. Nicht Mitleid, sondern Verachtung für die Schwachen und Armen, die Verlierer und Ausgesonderten der Märkte, greift um sich. Fasziniert und fröstelnd erleben wir das Erstarken einer Schicht von coolen genussgierigen Karrieretypen, denen es schlicht egal ist, ob jemand neben ihnen den Bach runter geht. Besserverdie-nende sind die Besseren. Reichtum ist Synonym für Leistung und Verdienst. Das muss nicht mehr im Einzelfall nachgewiesen werden, sondern wird unter-stellt.
Tastend und nach und nach erst bekommt der neue Mensch Selbstbewusstsein und Gesicht. Als deutsche Banken Mitte der 90er Jahre mit dem Verweis auf „Schalterhygiene“ Sozialhilfefällen und Verschuldeten Girokonten verwei-gerten, löste das noch einen Sturm der Entrüstung aus. „Schalterhygiene“ wur-de zum Unwort des Jahres gekürt. Doch die ganz Armen und Gottverlassenen, die räumt man inzwischen aus dem Blickfeld, wenn es irgend geht. Früher lagen die Drop-outs unbehelligt in den Domportalen und profitierten von der im Got-tesdienst aufgefrischten Nächstenliebe. Heute wird der „Wohlstandsmüll“ (Deutsche-Bank-Chef Breuer) in Verbringungsgewahrsam genommen und an den Stadtrand expediert, so er das Straßenbild stört. Und dezent montierte man Bänke aus Bushaltestellen und Bahnhöfen, damit keiner dort pennt. Verarmung und knallharte Profitgier sind oft noch kaschiert als bittere Kur zur Rettung des Wirtschaftsstandortes und damit des Volkswohls. Doch klar schon schält sich der bekennende Egoismus als kategorischer Imperativ der ultraliberalen Epo-che heraus. Vor Gott waren alle Menschen gleich. Doch der Gott ist tot, der als Über-Ich zur Nächstenliebe nötigt.
Was für ein Durchatmen in den Eliten! Welche Vision! Eine Epoche befreit von der Klebrigkeit des Caritativen. Die Einkommenssteuer nach und nach abge-schafft – die Steuersätze geschliffen, der Rest weggestaltet. Nur Arme brauchen einen reichen Staat. Der Kirchenzehnte, das war noch okay. Schluss mit der aufgezwungenen Nächstenliebe, der ausufernden Abzockerei für Leute, die man nicht kennt und nicht kennen möchte. Jeder verdiente Euro ist dann fast einen Euro wert. Für existentielle Risiken hat die Moderne die Idee der Versicherung geboren – Angstsparen und krankhafter Geiz wegen unwahrscheinlicher aber nicht auszuschließender Unglücksfälle sind obsolet. Warum zahlen für Leute, die sich die Prämien gespart haben? Ein paar Verbrauchssteuern auf Strom und Schnaps, Lebensmittel, Tabak und sonstige Drogen, damit Polizei und Ge-richte unterhalten werden können, Parlament und Börsenaufsicht, das sollte irgendwann genug sein. Endlich begreift sich der Staat als Störenfried der Marktgesellschaft und beginnt zu reagieren.
Kostenwahrheit, Kostenklarheit – jede Leistung wird direkt bezahlt, nicht mehr irgendwie über eine gefräßige undurchsichtige Bürokratie. Maut auf allen We-gen. Das Fernstraßennetz verkauft zum Abtrag von Staatsschulden der verflos-senen Epoche, das Bahnnetz desgleichen. 2007 soll es in Deutschland soweit sein. Gewiss hat British Rail seit ihrer Privatisierung eine Tendenz entwickelt, neben den Gleisen zu fahren. Doch die Leute können ja auf Auto und Bus um-steigen. Die Balance zwischen Sicherheit und Preis bestimmt letztlich der Kunde mit seiner Kaufentscheidung. Und dessen Risiko-Präferenz spiegelt sich im Markterfolg unfallträchtiger Billig-Bus-Unternehmen. – Alle Unis an die Börse – wer was werden will, muss auch was hinlegen, und sei es ein Schuld-schein. Die Debatte über Studiengebühren hat erste Tabus hinweggefegt. Und glaubt man im Ernst, niemand wolle sich mehr mit einem Professorentitel schmücken, wenn er kein leistungsunabhängiges unkündbares üppiges Le-bensgehalt mehr bekommt! – Den Strafvollzug preiswert ins ferne Ausland – das war früher gang und gäbe, zumindest bei denen, die überseeische Gebiete besaßen. In Japan denkt man laut darüber nach, Pflegefälle und Alte zu expor-tieren. – Die Bundeswehr abgeschafft bis auf ein Restcorps gegen durchge-drehte Minidiktatoren und Warlords, ersetzt durch Spezis für Terrorismusbe-kämpfung. Die Eurofighter verscherbelt an beide Chinas oder Koreas oder an afrikanische Potentaten. Seit der Entstaatlichung der Kriege verlagert sich die Nachfrage in Sachen Sicherheit auf bessere Geheimdienste und Verhörspezialis-ten zum Schutz der Wohlstandsexklaven vor fanatisierten Desparados.
Wer sich dauerhaft mehr geleistet hat, als er zahlen kann, zu dem kommt ir-gendwann der Gerichtsvollzieher und trägt Teppiche und hifi-Geräte aus dem Haus. Doch die Privatisierung ist nicht nur der Gerichtsvollzieher, der freigebige Sozialstaaten in die raue Wirklichkeit des Weltmarktes zurückholt. Sie ist zugleich die Frischzellentherapie zur Wiederbelebung erschlaffter Dienstleister und zur Optimierung des Ressourceneinsatzes. Die liberale Marktgesellschaft braucht Expansionsraum. Nur dann ist sie stabil. Das waren zuerst die Marktan-teile der vormodernen Handwerker, dann das nahe und ferne Ausland, bis die Welt aufgeteilt war, die Imperialismen aufeinanderkrachten und Handelskonflik-te hochkochten. Dann kam in der Wohlstandsepoche die Nachfrage aus den mit der Produktivität wachsenden Löhnen. Doch seit dieser Trend gekippt ist, muss das bislang ordnungspolitisch Gestaltete dem Markt überantwortet werden. Der superschlanke magersüchtige Twiggy-Staat ist angesagt. Wo sonst sollen die überzähligen Renditen reinvestiert werden? Ist wirklich nicht mehr viel zu ver-scherbeln und zu versteigern? Die Parkplätze am städtischen Straßenrand et-wa? Im Staatsbesitz ist noch immer ein Großteil von Landschaft und Natur. Ein körperfester Pflichtchip verstattet das Bemauten von Parks und Boulevards, Stränden und Wanderwegen. Und eine liberale Bodenpolitik drückt Baupreise, verbilligt Investitionen, feuert die Wirtschaft an und schafft Arbeitsplätze zu-hauf.
Das Solidarprinzip nach und nach auszudehnen auf alles, was da kreucht und fleucht, auf Pflanze und Tier – ist das leistbar zu vertretbaren Kosten? Gewiss, man hat nicht schlecht verdient an den Aufträgen der Öffentlichen Hände für Kläranlagen, Rauchgasentschwefelung, thermische Müllentsorgung und so fort. Doch denkbar wäre ja auch gewesen, dass der Staat das Geld dafür gar nicht erst einsammelt. Schluss mit dem exzessiven überbürokratisierten Umwelt-schutz! Man nimmt der Natur damit jede Chance, sich von selbst an unsere hei-matlichen Schadstoffe zu adaptieren und Arten auszubilden, die nicht nur in ökologischen Reservaten überlebensfähig sind. Und brauchen wir angesichts des gentechnischen Fortschrittes überhaupt noch Artenschutz? Die Arten, die wir haben wollen, erzeugen wir alsbald selbst. Schöne Neue Welt der Freiheit von der Mitverantwortung nebst Zahlungspflicht für jeden Nächstbesten! Was für eine Tatkraft wird entfesselt, welche Entwicklungspotentiale werden freige-setzt, wenn sich die Leistung beherzten Kapitaleinsatzes in anderer Größenordnung lohnt!
Längst schlägt der Wertewandel durch auf die praktische Politik. Nicht Weniges ist bereits in Werk gesetzt, doch die Schritte ins neue Zeitalter sind fast stets noch gerechtfertigt als instrumental zur letztendlichen Absicherung eines Rest-bestandes an Gemeinwohl und caritativer Fürsorge. Die Globalisierung macht´s möglich. Die Angst vor ihr eliminiert Stück für Stück systemfremde Sozial-staatlichkeit. Sie ist die Königspython, vor die die Staaten halbgelähmt und gefügig hocken wie Kaninchen. Steuersenkungswettläufe der Nationen zuguns-ten der mobilen Steuerzahler sind längst Realität. „Race to the bottom“ nennt Paul Krugman dieses Phänomen. Staaten werden gemanagt wie Firmen und bewerben sich demutsvoll um Investoren wie verzweifelte Arbeitslose um Jobs. Der deutsche Spitzensteuersatz geht schon mal runter von 53 auf 42%, die Kör-perschaftssteuer ist von 50 auf 25 % gesenkt, die Vermögenssteuer abgeschafft. Das über die veranlagte Einkommenssteuer Einkassierte fiel binnen drei Jahren von 12,2 auf 4, 6 Mrd. Euro, bei der Körperschaftssteuer von 23,6 auf 8,3 Milliarden. ( 2001 hat der Staat der Wirtschaft gar 426 Mio. Euro mehr an Körperschaftssteuer zurück erstattet als eingenommen.) Das sind erste Trippel-schritte. Und mit der im Frühjahr vom Finanzministerrat nach schier endlo-sem Fingerhakeln abgenickten Zinsbesteuerung in der EU lässt sich leben. Sie bietet Schlupflöcher groß wie Scheunentore. Man muss nur stiften gehen oder bestimmte Investmentfonds bevorzugen; die Banken machen bereits Werbung für geeignete Produkte. Die rund 600 Milliarden von Deutschen ins Ausland geschafften Euro werden auch künftig kaum für den Wildwuchs des Sozialstaats zahlen müssen. Derartige Entwicklungen schaffen die wirtschaftliche Grundla-ge für den contemporairen Bewusstseins- und Wertewandel. Denn hoch ver-schuldete Staaten sind besser gefeit gegen die Versuchung sozialstaatlicher Wohltaten.
Hohe Arbeitslosigkeit sichert scharfe Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt, damit eine kärgliche Lohnentwicklung und schwaches Beitragsaufkommen der Sozial-versicherungen bei steigendem Bedarf an Sozialleistungen. Die Anpassung der Sozialausgaben an schrumpfende Einnahmen erfolgt unter der Bedingung zu-nehmender Steuerentlastung nicht sozialversicherungspflichtiger Einkommen, der Unantastbarkeit wohlverfasster Interessen (Ärzteverbände, Apotheker, No-tare, Pharmaindustrie usw.), der Absenkung von Arbeitgeberbeiträgen und der Belastung der Sozialversicherungen mit versicherungsfremden nationalen Aufgaben wie Eingliederung von Russlanddeutschen, Gewährung von Kinder-erziehungszeiten usw. Der größte Coup wurde gelandet, als man den Löwenan-teil der Folgekosten deutscher Wiedervereinigung den Sozialversicherungen statt den Steuerzahlern aufgelastet hat.
Bewundernswert das harmonische Zusammenwirken der Medien! Unisono do-kumentieren sie die Notwendigkeit, um des schieren Überlebens des Wirt-schaftsstandortes Deutschland willen den Sozialstaat Schicht für Schicht abzu-tragen. Obgleich wir inzwischen die niedrigste Steuerquote der westlichen Welt und der statistisch erfassten deutschen Geschichte haben, dominiert die Über-zeugung, wir seien das Hochsteuerland schlechthin und dringend müssten die Steuern weiter runter. Die neuen Niedrigsteuerländer in der EU wie Estland und Slowenien liegen da auch nicht günstiger als Deutschland, weil bei weitem kein so phantasiereicher Kosmos an Ausnahmen und legalen Tricks zur Steu-ergestaltung entwickelt ist.
Obgleich wir die Weltmeister im Export sind und der Anteil der Industrie an der Beschäftigung größer ist als in jedem anderen Staat der westlichen Welt, glaubt das Volk den Medien täglich aufs neue, unsere Arbeitslosigkeit erkläre sich aus einem Verlust an deutscher Konkurrenzfähigkeit, aus Produktionsver-lagerung und Jobexport. – Obgleich sich der deutsche Handelsüberschuss bin-nen zwei Jahren schlicht verdoppelt hat, auf den historischen Rekord von 133 Milliarden Euro, dozieren medienversierte Experten (so Professor Sinn, Chef des Ifo-Instituts München, bei Sabine Christiansen ), die Exportweltmeister-schaft besage gar nichts, denn die deutschen Exporte würde ja nicht mehr in Deutschland hergestellt, sondern aus Billiglohnländern importiert und weiter-gereicht. Doch der Exportüberschuss misst nun mal die Differenz zwischen Exporten und Importe, also die im Saldo exportierte deutsche Wertschöpfung. Nur zweimal in der Welthandelsgeschichte ist dieser Exportüberschuss übertrof-fen worden und zwar 1993 und 1994 von Japan.
Obgleich wir nach den Statistiken selbst des Instituts der Deutschen Wirtschaft beim Anteil der Lohnnebenkosten am Lohn im Mittelfeld liegen, glaubt inzwi-schen jedermann, die hohen Sozialabgaben seien die spezifisch deutsche Ursa-che für die Arbeitslosigkeit hierzulande. – Obgleich die Tariflöhne seit 1994 um 11 Prozent hinter dem Verteilungsspielraum – Inflation plus Produktivitätszu-wachs – zurückgeblieben sind, die Bruttodurchschnittslöhne noch mal um 8 Prozent hinter den Tariflöhnen und die Lohnstückkosten um 10 Prozent hinter denen der EU, gelten Gewerkschaftler in Deutschland heute gemeinhin als Be-tonköpfe, die mit maßlosen Lohnforderungen Arbeitsplätze zerstören.
Obgleich wir mit real 39,9 Wochenstunden länger arbeiten als etwa die Franzo-sen (37,7Std.) die Holländer (38,9 Std.) du die Italiener (38,5 Std.) , werden wir hierzulande als Freizeitweltmeister gebrandmarkt. Obgleich wir beim Anteil der Niedriglohnjobs in der EU nur noch von Irland, Holland und England übertrof-fen werden, suggeriert die veröffentlichte Meinung, auch hier gäbe es eine sin-guläre deutsche Inflexibilität. Die Gastronomie zahlt 45 Prozent unterm natio-nalen Durchschnittslohn – eine Ziffer, die von keinem der 25 EU-Staaten un-terboten wird. – Obgleich eine wohlorchestrierte Campagne gegen die Starr-heit deutscher Flächentarifverträge Sturm läuft, bietet die deutsche Industrie zufolge dem jüngsten EU-Jobreport „Beschäftigung in Europa“ weit größere Lohndiskrepanzen als irgendein anderer Staat. In Firmen mit 10 bis 50 Jobs geht ein Arbeitnehmer im Durchschnitt mit nur 56 % dessen nach hause, was sein Kollege in einem Großbetrieb (ab 1000 Beschäftigte) aufs Konto bekommt. –
Obgleich das reale Rentenzugangsalter der Männer in Westdeutschland höher ist als 1960, glaubt das Volk, ein immer früherer Renteneinstieg sei mitschuldig and der Misere der Rentenkassen. – Obgleich die Sozialleistungsquote – der Anteil der Sozialleistungen am Volkseinkommen – in Westdeutschland niedri-ger ist als 1980, als es nicht einmal halb so viele Arbeitslose gab, hat sich die Überzeugung ausufernden Missbrauchs sedimentiert. Nicht der Sozialkosten-block infolge der Wiedervereinigung sondern parasitäres Individualverhalten soll die Geldnöte der Sozialkassen verursachen und wegreformiert werden.
All das sind Gestaltungsleistungen der Medien im Umgang mit der Realität, de-nen man seine Bewunderung nicht versagen kann. Daran hat eine offenbar von Experten der Massenpsychologie erarbeitete Neusprache keinen geringen An-teil. Streichung und Kürzungen von Sozialleistungen firmieren als „Anreize zur Stärkung der Eigenverantwortung“. Die Kürzung von Arbeitgeberbeiträgen zur Rentenversicherung wird verkauft als „Beitrag zur Generationengerechtigkeit“. Die Freistellung der Arbeitgeber vom hälftigen Anteil an wesentlichen Kran-kenversicherungsleistungen wie Zahnbehandlung wird als Reform zur Beitrags-senkung vermarktet.
Umsichtig wird der Boden bereitet für die Durchsetzung der nächsten Umvertei-lungs- und Kürzungsschübe. Doch erstaunlich viel konnte bereits ohne terminologische Verklärung auf den Weg gebracht werden, meist mit dem schlichten Hinweis auf knappe Kassen. Ohne viel Aufhebens wurde schon 2001 die Berufsunfähigkeitsrente gestrichen, obgleich jeder Vierte aus gesund-heitlichen Gründen vorm Rentenalter aussteigt. Vor Jahren hatte Olaf Henkel, damals BDI-Chef, geklagt, das Schwerbehindertengesetz habe mehr Schwerbe-hinderte geschaffen als zwei Weltkriege zusammengenommen. Dank der Ab-schaffung der Arbeitslosenhilfe – als „Zusammenführung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe“ etikettiert – werden eine halbe Million Menschen kurz vor Weih-nachten erfahren, dass sie ab Neujahr jede Unterstützung verlieren und dann u.U. auch keine Kranken- und keine Rentenversicherung mehr haben. Weitere etwa zwei Millionen werden auf Sozialhilfeniveau runter gebracht – ein beherz-ter Schritt fürwahr. Doch allein der Fall Vodafone wird wohl dem deutschen Fiskus mehr kosten als die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe einspart.
Und weil in der Ex-DDR 1,6 Millionen Arbeitslose um 49 000 freie Stellen konkurrieren und dort bereits zwei Drittel der Arbeitslosen derzeit nicht mehr Arbeitslosengeld sondern –hilfe beziehen, trifft es massiv die Neuen Länder und dort gerade die Generation der zur Wende so engagierten 40er, die sich freuden-trunken ins westliche Wohlstandswunder hineingeträumt hatten. („Die Arbeit-nehmer, die 1990 zu alt für eine Neuqualifikation, aber zu jung für die Frühver-rentung waren, werden relativ niedrige Renten erhalten.“ Managerkreis der Friedrich-Ebert-Stiftung: „Doch noch ein Wirtschaftswunder in Ostdeutsch-land?“, Juni 2004) Die Löhne bewegen sich in Ostdeutschland weithin auf dem Niveau Griechenlands und Portugals, nur nicht die Preise. Die Jungen entschwinden gen Westen, wo es eher noch Jobs gibt, oft mit Mobilitätshilfen des Arbeitsamtes. Selbst Städte wie Chemnitz und Magdeburg drohen zu bloßen Marktflecken zu verkommen. Erst recht helfen draußen auf dem tristen Lande keine Anreize zur Stärkung der Eigenverantwortung mehr – es gibt schlicht nichts. Viele ländliche Regionen in den Neuen Ländern haben dann keine Chance mehr, so der Deutschland-Chef der Prognos AG: „Da wird es um das Jahr 2010 richtig knallen. Dann gehen dort die Lichter aus.“ (Handelsblatt 14.6.04). Doch das Gros der Betroffenen dürfte zu alt sein für echte Randale. Übrigens ist nach einer britischen Untersuchung die Selbstmordrate bei Ar-beitslosen doppelt so hoch wie gemeinhin, Indiz von Eigenverantwortung auch bei den Ausgesonderten.
Stringent durchgegriffen wird bekanntlich auf eventuelle Ersparnisse von Joblo-sen im Arbeitslosengeld II. 200 Euro pro Lebensjahr bleiben unangetastet. An-erkennenswert die Sorgfalt der Detailregulierungen: Ein selbstbewohntes Häu-schen oder Apartment wird, sofern es „angemessen“ ist, zunächst dem Bedürfti-gen belassen. ES ist nach dem Tod zugunsten der Staatskasse zu veräußern, so-fern der Erblasser in den letzten zehn Jahren Arbeitslosengeld II oder Sozialhil-fe bezogen hat. Der Erbe hat dieses Geld zurückzuzahlen, es sei denn, er erbt weniger als den Gegenwert von 15 500 Euro und war zugleich auch Lebenspart-ner oder Verwandter und hat diesen in häuslicher Gemeinschaft nicht nur vorü-bergehend gepflegt. Lebensversicherungen müssen vor Gewährung von ALGII /Sozialhilfe aufgelöst werden, es sei denn, deren Verwertung vor Renteneintritt ist vertraglich ausdrücklich ausgeschlossen. Das treibt Rendite und Börsenkurs der Versicherungen, denn kaum etwas ist für Kunden verlustreicher und für Versicherungen profitabler als ein Ausstieg aus dem Vertrag. Die Zusammenle-gung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe wird die Zahl der Kinder, die auf Sozi-alhilfe angewiesen sind, um 500 000 auf 1,5 Millionen steigen lassen, so der Präsident des Deutschen Kinderschutzbundes, und bei Kindern, die auf Sozial-hilfe angewiesen sind, gäbe es ein 20 mal höheres Krankheitsrisiko als im Durchschnitt. Kinder sind in ganz Deutschland mit Abstand das Armutsrisiko Nummer eins.
Der vorzeitige Renteneintritt wurde auf 63 heraufgesetzt; das reguläre Renten-eintrittsalter soll auf zunächst 67 steigen. Niemand erwartet im Ernst, ein gefeu-erter Hilfs- oder Facharbeiter um die 60 werde irgendwo wieder eingestellt. Schon heute hat die Hälfte der Firmen niemanden mehr ab 50 auf der Lohnliste und Zweidrittel der Firmen niemanden mehr ab 55. Damit ist die entscheiden-de Folge des höheren Rentenalters die Senkung der Rentenansprüche und der Verbrauch der Ersparnisse der Betroffenen. Überhaupt die Renten. Was da ge-glückt ist an Deckelung, ist bislang kaum durchschaut. Denn nicht minder stark als Nachhaltigkeitsfaktor, Streichung von Ausbildungszeiten, Rentensenkung im Verweis auf die Riester-Renten usw. schlagen die Minijobs durch. Man hat sie unter großem Bohai der pauschalen Besteuerung entzogen und dafür der Versi-cherungspflicht unterworfen. Das bringt auf den ersten Blick kaum eine Verän-derung für Minijobber und Staatskasse. Kaum bemerkter Haupteffekt: Damit geht jeder Minijob mit seinen 410 € voll in die Berechnung des deutschen Durchschnittslohns ein und der bestimmt den jährlichen Rentenwert aller Rentner. Pro Million neu erfasster Minijobs dürfte die Rentenversicherung um die 4 Mrd. € pro Jahr einsparen.
Deutlicher vorgewagt hat man sich im Bereich Medizin und Gesundheit – eine der hoch profitablen künftigen Schlüsselbranchen. Zwar verharrt trotz steigen-der Vergreisung und medizintechnischen Fortschritt der Anteil des Gesundheits-systems am Inlandprodukt schon seit 1977 bei sieben Prozent – auch dank 260 Kostendämpfungsgesetzen. Doch die Beitragssätze steigen. Denn immer kleiner wird der Lohnanteil am Volkseinkommen. Linke Kleingeister nerven nun, man möge auch anderen Teilen des Volkseinkommens Beiträge zum Ge-sundheitssystem abverlangen, Kapitaleinkünften, Mieten und Pachten, Gewin-nen und Honoraren. Doch die Idee einer „Bürgerversicherung“ wurde im Juni auf dem Bundesparteitag der FDP von deren Vize Professor Pinkwart als „Einheitsversicherung nach sozialistischem Vorbild“ gebrandmarkt. Die CDU verfolgt stattdessen die Idee der Kopfpauschale. Jeder zahlt die gleiche Summe in die Krankenversicherung, nicht mehr den gleichen Prozentsatz seines Gehal-tes. Für diejenigen, die das beim besten Willen nicht aufbringen können, gibt der Staat was dazu. Diese Gegenfinanzierung des Absenkens von Beiträgen Gutbe-tuchter aus der Staatskasse summiert sich auf rund 15 Milliarden Euro pro Jahr. Das Kopfpauschalensystem verbessert die Kostengerechtigkeit – gleicher Preis für gleiche Gesundheit. Die Einkommensumverteilung nach unten wird gemil-dert, die Zwangssolidarität zugunsten des Marktes zurückgedrängt. Doch die-ses Modell ist Stückwerk. Gleiche Prämie für höchst unterschiedliche Risiken – ist das gerecht? Ein Bauarbeiter wird anders verschlissen als ein Finanzmak-ler oder ein Ministerialrat.
Den Durchbruch bringt das auf dem FDP-Parteitag im Juni beschlossene Mo-dell: Die gesetzlichen Krankenversicherungen werden abgeschafft; nur noch Privatversicherungen sind zulässig.
„Jeder Bürger ist verpflichtet bei einem Krankenversicherer seiner Wahl einen Gesundheitsversicherungsschutz abzuschließen, der zumindest die vom Gesetz-geber vorgegebenen Regelleistungen umfasst. Bei den Regelleistungen handelt es sich um medizinisch unbedingt notwendige Leistungen.“ (//parteitag55.fdp.de) Zugleich ist für diese Regelleistungen eine Eigenbeteili-gung zu zahlen. „Darüber hinaus kann der Einzelne sich gegen zusätzliche Ri-siken in beliebiger Höhe versichern“,
so Prof. Pinkwart. Dass Risiken wie Gelenk- und Bandscheibenverschleiß be-rufsabhängig sind, wird eine Privatversicherung zu berücksichtigen haben. Die Versicherungen haben dann Altersrückstellungen für jeden Kunden zu bilden, weil man im Alter öfter oder länger krank wird. Für die heute schon Älteren in den AOK sei zu prüfen, ob der Staat für deren Altersrückstellungen einzuste-hen hat. „Die Arbeitgeberzuschüsse zur Krankenversicherung werden als steu-erpflichtiger Lohnbestandteil ausgezahlt. Dadurch wird erreicht, dass steigende Beiträge zur Krankenversicherung nicht mehr die Arbeitskosten erhöhen.“ Im Klartext – sie werden auf heutigem Stand eingefroren. Da sie als Lohnbestand-teil zu versteuern sind, steigt das Lohnsteueraufkommen kräftig an. Das gestattet aufkommensneutral ein deutliches Absenken des Spitzensteuersatzes.
Der Umstieg zu diesem „freiheitlichen Gesundheitssystem“ ist freilich „nicht ohne zusätzliche Belastungen der heute lebenden Bürgerinnen und Bürger möglich“, so der FDP-Parteitagsbeschluss. Schließlich sind neben der Lohnsteu-er auf Arbeitgeberbeiträge und der Entlastung von Arbeitgebern und besser be-tuchten Beitragszahlern auch die Dividenden der Versicherungen zu bezahlen. Doch dem steht als gar nicht zu quantifizierender Gewinn der Paradigmenwech-sel von der Solidargemeinschaft zum Markt gegenüber und keine Revolution verläuft kostenfrei.
Doch wie kann man einen solchen Ausbruch aus der Solidargemeinschaft in die Freiheit des Marktes politisch durchsetzen? Es heißt, wer einen Sumpf trocken legen will, darf nicht die Frösche fragen. Doch wenn man Frösche hat, die RTL sehen und BILD lesen, so darf man ihnen getrost die Einsicht zutrauen, dass das Trockenlegen des sozialstaatlichen Sumpfes im ureigensten Interesse auch die-ser Frösche ist und sie guten Mutes darüber abstimmen lassen. In der medien-gesteuerten Welt ist die vierjährig getaktete Abstimmungsdemokratie keine un-überwindbare Entwicklungsbarriere.
Was sind „medizinisch unbedingt notwendige Leistungen“? Das wird politisch zu klären sein. Im strengen Wortsinn ist das wohl das hier und jetzt Überle-bensnotwendige. Gesundheitliche Lebensqualität bedarf der Zusatzversicherung. Doch Lebensqualität schlägt irgendwie durch auf die Lebenserwartung. Die liegt zum Beispiel bei den Männern in Berlin-Zehlendorf sechseinhalb Jahre über der in Kreuzberg – und dies noch vor einer Befreiung des Gesundheitssystems aus der solidarischen Zwangsgemeinschaft. Die ethische Grundfrage, ob nur die Qualität oder auch die Quantität des Lebens leistungsabhängig sein darf, relativiert sich, da eben Qualität in Quantität umschlägt. Phillip Mißfelder, Vor-sitzender der Jungen Union, hat im letzten Jahr den Paradigmenwechsel pro-nonciert. Künstliche Hüftgelenke und Gebisse solle es ab einem bestimmten Alter, genannt wurden erst mal 85 Jahre, von der Kasse nicht mehr geben. Das Hochschnellen der Lebenserwartung in der Ex-DDR erklärt sich in hohem Maße aus der dorten bis zur Wende kaum üblichen Beseitigung von Immobilität durch neue Hüftgelenke. Das schlägt durch auf die Rentenkassen. Sein Ver-suchsballon stieß keineswegs nur auf Pflichtkritik. Professor Friedrich Breyer, Universität Konstanz, Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat des Bundeswirt-schaftsministeriums, plädierte für eine Altersgrenze von 75 Jahren; nach diesem „biblischen Alter“ solle allenfalls noch die Linderung von Schmerzen finanziert werden.
Unverkennbar befindet sich Deutschland noch in einem vorliberalen Entwick-lungsstadium. In Tony Blairs New Economy lebt bereits jedes dritte Kind in Armut, in Deutschland erst jedes fünfte. Krasser noch ist derzeit die Diskrepanz zu den USA und die geben stärker denn je dem Rest der Welt das Benchmar-king vor: 42 Millionen in Armut, 44 Millionen völlig ohne Krankenversicherung und weitere 38 Millionen 2002/03 zumindest zeitweise unversichert, 14 Millio-nen psychisch krank, 300 Mrd. Dollar im Jahr für Drogen, 1200 Mrd. Dollar für innere Sicherheit, geschätzte 1500 Mrd. Dollar Schäden durch Gewalt und Verbrechen, 2,1 Millionen Menschen im Knast, viermal soviel wie 1980, 4,7 Millionen auf Bewährung frei. Die „incarceration rate“ der USA ( Anteil der Bevölkerung hinter Gittern) übertrifft die Westeuropas um das Siebenfache, seit letztem Jahr selbst die Russlands und Ruandas und wird von keinem anderen Staat mehr getopt. –Diese Kerndaten dokumentieren die Belastbarkeit einer dy-namischen ultraliberalen Gesellschaft. Irgendwann gerät das Verbrechen zu ei-ner schichtenspezifisch rationalen Option. Nicht nur „irrationale“ Vandalismen und Freak-Morde aus Frust, non-profit-Actions gegen Bessergestellte von der anderen Seite der sozialen Welt, werden in den USA und in England zum Prob-lem, sondern einfach Kriminalität zur Sicherung des Lebensunterhalts. Von ei-ner wirklich bettelarmen Unterschicht wie im Angelsächsischen kann hierzu-lande noch gar keine Rede sein. Doch die Weichen werden gestellt, die Werte-entscheidungen politisch offenbar getroffen. Einschneidend wird in Deutsch-land derzeit der „zweite Arbeitsmarkt“ und die Weiterbildung der Arbeitsäm-ter/Agenturen zusammengekürzt. Was wohl ist von jungen Menschen, die ihre Identität im sozialen Abseits bilden, an Verhalten zu erwarten?
Dennoch vollzieht sich bei uns der Epochenwechsel, wenngleich wirkungsvoll und auf breiter Front, weithin im Verstohlenen. Denn die Praxis ist dem Be-wusstseinswandel des Volkes noch voraus. Rechte werden ignoriert, Sozialge-setze gebeugt und das nicht von hemdsärmligen Firmenchefs, sondern von den Behörden selbst. Instruktiv sind stets konkrete Erfahrungen:
Daniel meldet sich nach Abschluss seiner Lehre arbeitslos. Der Arbeitgeber verschleppt die Übersendung von Papieren ans Arbeitsamt. Daniel bekommt zu-nächst nichts. Nach zwei Monaten, inzwischen nach Berlin verzogen, erklärt ihm das dortige Arbeitsamt, wenn er sich nicht neu anmelde und für die zwei Monate vorher aufs Geld verzichte, würden sie seinen Anspruch endgültig ab-lehnen. Verunsichert willigt er ein, Daraufhin wird eine Sperrzeit verhängt, weil er sich zwei Monate zu spät gemeldet habe. Er hat nichts zum Leben. Beim dritten Besuch auf dem Sozialamt sagt man ihm, er sei noch nie dort ge-wesen und so bedürftig sähe er gar nicht aus. Er bittet um Geld für die Zim-mermiete, weil er sonst rausfliege und auf der Straße stehe. Antwort: Das ist uns egal, gehen Sie zur Treberhilfe. Trotz gesetzlicher Verpflichtung des Sozialam-tes, Obdachlosigkeit zu verhindern. Im Übrigen bekommt er von der Beamtin zu hören, seine Eltern hätten es sich überlegen sollen, so etwas wie ihn in die Welt zu setzen. Sozialhilfe wird weiter verweigert, weil er sich nicht um Arbeit beworben habe. Seine Antwort, er habe sich bei den genannten Adressen be-worben, wird beschieden, er könne das nicht nachweisen, weil er keine Ableh-nungsbescheide der Firmen vorlege. Die kann man aber nicht zwingen, je-dem Bewerber aus der Klientel des Sozialamtes schriftlich zu antworten. Sein Antrag auf Sozialhilfe wird endgültig abgelehnt. Sein sofort beim Direktor des Sozialamtes eingereichter schriftlicher Widerspruch mit Detailnachweis der Fehler in der Ablehnungsbegründung ist auch nach 5 Monaten ohne jede Ant-wort. Dann begann das Arbeitsamt zu zahlen. Doch Daniel erwähnt dort, er be-suche jetzt 4 x 2 Stunden die Woche einen Vorkurs am Berlin-Colleg fürs Abi-tur. Daraufhin wird er sofort gestrichen, weil er dem Arbeitsmarkt nicht zur Ver-fügung stehe. Auf seinen sofort erfolgten schriftlichen Widerspruch, er stehe voll zur Verfügung, weil der Kurs wahlweise vormittags, nachmittags oder a-bends genommen werden kann, ist auch nach vier Monaten trotz mehrfacher Rückfrage kein Bescheid erhältlich. Damit ist er zugleich nicht mehr kranken-versichert. Bei Vorsprache beim Arbeitsamt nach zwei Monaten erklärt man ihm, die Beschwerdestelle sei woanders untergebracht und von deren Entschei-dung wisse man nichts. Im Übrigen sei gegen ihn wieder eine Sperrzeit ver-hängt, weil er auf zwei Vorladungen nicht reagiert habe. Diese Vorladungen hat Daniel nie erhalten. Seine Frage, wie man überhaupt gegen jemanden we-gen Nichtmeldung Sperrzeiten verhängen könne, den man doch als arbeitslos Gemeldeten gestrichen habe, bleibt unbeantwortet. Sein Wohngeldantrag ist auch nach fast 5 Monaten nicht beschieden. Trotz Beratung befreundeter Ju-risten ist es ihm bis heute nicht gelungen, beim Sozial- oder beim Arbeitsamt die Einhaltung elementarer Rechtsvorschriften durchzusetzen. Er lebt ohne Krankenversicherung von Almosen.
Seine Erfahrungen entsprechen offenbar einer flächendeckend verordneten Stra-tegie. Zitat aus „Frau und Mutter“, Mitgliederzeitschrift der katholischen Frau-engemeinschaft Deutschlands (3/2004):
„ Systematische und rechtswidrige Verweigerung von Sozialleistungen werfen Rechtsexperten des Deutschen Caritasverbandes und der Diakonie Sozialäm-tern in einer Erklärung vor. Der Verband wolle zu den Erkenntnissen von 39 Justiziaren bei Caritas und Diakonie aber nicht länger schweigen. Unter Bezug auf amtliche Verwaltungsanweisungen erheben die Justiziare den Vorwurf, dass Hilfeempfänger von Sozialämtern häufig zu „bevorzugten Opfern dezi-dierter oder auch nur indiskret formulierter Sparabsichten“ gemacht würden. Die Begründungen für abgelehnte Hilfeleistungen seien „manchmal geradezu men-schenverachtend und alarmierend“. Die Betroffenen gerieten dadurch in akute Notlagen und könnten sich selten wehren, weil ihnen Mut und Ausdauer fehl-ten. Der soziale Rechtsstaat werde schwer beschädigt, wenn Behörden ohne rechtliche Folgen „den Bruch von Gesetzen betreiben dürfen“, kritisierten die Justiziare.“
Wird die Gewährung gesetzlich verbriefter Sozialleistungen auf diejenigen re-duziert, die über die Intelligenz, Energie, Ressourcen und Risikofreude verfü-gen, diese gerichtlich durchzusetzen, so sind sie faktisch abgeschafft. Das ist ein Durchbruch auf dem Weg zur solidaritätsfreien Marktgesellschaft. Erst recht erfolgt selbstredend eine Rodung bei den freiwilligen und Ermessensleistungen, ein wahrer Kahlschlag bei ABM und Weiterbildung. Denn die Bundesagentur für Arbeit steht unter gnadenlosem Sparzwang.
Nicht mehr die Reformbedürftigkeit, sondern die Unhaltbarkeit des von Bis-marck geschaffenen Sozialsystems wird bereits proklamiert. Irgendwann wird vielleicht dann auch das gesetzliche Rentenalter flexibilisiert gemäß der indivi-duellen Rüstigkeit und Grundsicherung alias Einheitsrente, Kranken- und Ar-beitslosengeld und Sozialhilfe zu einer Rundum-Sparversorgung verschmolzen. Dann wird das Überangebot an Jobsuchenden eine Lohndrift nach unten absi-chern, der die Transfereinkommen (Sozialhilfe usw.) zur Wahrung des Lohn-abstandsgebotes regelmäßig anzupassen sind und der Bezahlbarkeit wegen desgleichen.
Existenzangst ist noch immer der stärkste Leistungsanreiz. Bedürftige bleiben auf Familie, Verwandte und Freunde verwiesen. Das war auch schon so in frü-heren vormodernen Epochen. Das Besondere heute jedoch ist die fortschreitende soziale Atomisierung. Noch nie war das Modell Kleinfamilie so dominant und noch nie gab es so viele Single-Haushalte, wurde so spät geheiratet, so oft ge-schieden und, von Kriegswitwenepochen abgesehen, allein erzogen. Noch nie waren die Familienbande soweit gekürzt, beschnitten und geschwächt. Die Hilfsbereitschaft für Verwandte verblasst. Noch nie war Nachbarschaft so be-langlos. Auch die vom Arbeitsmarkt nunmehr verlangte Mobilität erodiert Fa-milien und die Bindungen zu Verwandten und Freunden. Insofern vollzieht sich der Sturz in die Einkommenslosigkeit alsbald ohne das Auffangnetz der kon-kret gelebten Gemeinschaften früherer Epochen.
Geschichte ist eben niemals die „ewige Wiederkehr des Gleichen“ (Nietzsche). Die Armut kehrt nicht einfach zurück. Sie gewinnt neue Qualität. Die Basis-trends der Epoche sind evident. Die Globalisierung schreitet voran. Die EU ex-pandiert. Die Produktivität wächst, wenngleich langsamer. Der Dataismus durchdringt alles Leben. Die Menschen leben länger und die Kinderzahl schrumpft. Diese Trends verclustern zu den Alternativen entweder eines neuen sozialstaatlichen Wohlstandswunders oder einer ultraliberalen Konkurrenzge-sellschaft. Welcher dieser beiden Entwicklungswege sich durchsetzt, hängt ab vom politischen Management und dem ist von diesen beiden Alternativen eine krass unterschiedliche Qualität abverlangt
Im Focus von Medien und Politik steht derzeit die demografische Bedrohung. Wie ein Fallbeil hängt sie über der deutschen Wohlstandsgesellschaft. Der Al-tenquotient (Menschen über 60 zur Zahl der 20-60jährigen) steige von 44 % 2001 auf 71 % 2030 und 78 % 2050 (10.koord.Bevölkerungsvorausberechnung, Statist. Bundesamt 2003, mittlere Variante 5). Die gesetzliche Rente entwickle sich zu einer Art „Zusatzversicherung“ zurück. „Die Erhaltung familiärer Bin-dungen ist zur wichtigsten Vorsorgemaßnahme fürs Alter geworden und hat fast den Charakter einer Lebensversicherung.“( Prof. Opaschowski, BAT-Freizeitforschungsinstitut, „Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschafts-politik“, Ludwig-Erhard-Stiftung Bonn, Juni 2004 S.21). Zwar haben Alle El-tern, aber nicht Alle haben Kinder und nicht Aller Kinder können und wollen zahlen. Stürzt der Rest, soweit er keine Wertpapierdepots hat anhamstern kön-nen, ins Alterselend? Die Politik bereitet die Menschen mental auf dieses Schicksal vor und kürzt mit einer Kaskade kunstvoller Anpassungen die Renten zusammen. Der Widerwillen dagegen wird als Opposition nicht gegen Gerhard Schröder, sondern gegen Adam Riese dargetan (DIE ZEIT, 24.6.04 S.1), als schlichte Wirklichkeitsverdrängung. – Als gäbe es keine andere Option als nur die Rentensenkung! – Als hätten wir nicht die längsten Schul- und Hochschulzeiten der Welt, mit Abitur nahe 20 und Uni-Abgang mit einem Alter über 29 statt mit 24 wie andernlands! – Als wäre der Anstieg der Lebenserwartung um 5-6 Jahre ein sicheres Datum ungeachtet einer pandemischen Adipostas (Fettleibigkeit), der bereits 25% der Jugend verfallen sind, und einer immer früheren Hingabe an Alkohol, Nicotin und Drogen! – Als wäre nicht die Demografie ein Hintergrundproblem, solange die Leute in Lohn und Brot noch zehn Prozent Arbeitslose ernähren anstatt dass auch diese Menschen Rentenbeiträge erarbeiten! – Als würde das reale Rentenzugangsalter von etwa 60 nicht deutlich ansteigen, sobald man die Alten wirklich braucht und arbeiten lässt! – Als käme es nur auf den Altersquotienten an und nicht auf die Gesamtzahl der Alten und Jungen, die genährt, gepflegt und ausgebildet werden müssen, und dieser Alters- und Jugendquotient steigt nur verhalten! – Als sei Deutschland bei der Berufstätigkeit von Frauen nicht noch hinter westlichen Standards zurück! – Als ließe sich durch kinderfreundliche Politik die Geburtenrate nicht – wie in Frankreich – kräftig verbessern! – Als stünden nicht heute bereits 32,6 Mio. Beitragszahlern 17,7 Mio. Alters- und Erwerbsunfähigkeitsrenten und 5 Mio. Witwenrenten gegenüber, Al-tersteilzeitler und Arbeitslosengeld beziehende Vorruheständler nicht mit-gezählt! Denn der Altersquotient ist nun mal nicht entscheidend, wenn fünf Millionen Erwerbsfähige keine Arbeit finden. – Und als gäbe es künftighin kein Wachstum der Produktivität (Schätzung Rürup-Kommission 1,8 %, Herzog-Kommission mindestens 1,25 % p.a.).
Die Unsicherheiten der Prognosen sind enorm und die Handlungschancen viel-fältig. Doch die Politik nimmt die momentanen Voraussagen einer Modellvari-ante als steinerne Wahrheit und befasst sich fast einzig mit Rentensenkung, um Beiträge zu drücken und von der Arbeitgeber- auf die Arbeitnehmerseite zu verschieben – mit Subventionen für Privatrenten, die das Gros der Kleinverdie-ner sich nicht leistet. Sie befördert damit genau jene Altersarmut, die sie verhin-dern zu wollen erklärt, und setzt sich dem Verdacht aus, Schwachstellen und Gestaltungsspielräume in den Voraussagen absichtlich zu ignorieren. Privatvor-sorge bedeutet Renten nicht proportional zum Einkommen, sondern zur Spar-quote und die fällt bei Niedrigeinkommen extrem gering aus. Die Einkommens-unterschiede werden sich in den Privatrenten krass verstärkt widerspiegeln. Angst vor nackter Armut im Alter wird die Befindlichkeiten tiefgreifend verän-dern und ein Verhalten mit sich bringen, dessen volkswirtschaftliche Wirkun-gen Armut verstärken.
Ignoranten sehen in einer schrumpfenden Bevölkerung gar eine Chance und erwarten mehr Wohnfläche für jeden, weniger Stau und Bedrängnis und mehr Luft auch für den Fiskus, weil weniger für Newcomer investiert werden muss .
Doch beim gängigen politischen laissez-faire wird das Ganze kostspielig und unerfreulich. Ein flächendeckendes Netz von Schulen, Kindergärten und Busli-nien wird bei sinkender Nutzung teurer und teurer. Wasser steht zu lange in den Rohren und wird brackig. Stadtteile veröden, werden zu Ghettos und no-go-Aereas, während die besser Situierten wegziehen und in schmucken Vierteln zusammenklumpen. Ein „Wir und die“-Gefühl greift um sich.
der nachfolgende Absatz wurde in den Präsens verändert.
Wenden wir unser Augenmerk auf die offenbar politikresistente Arbeitslosig-keit. In der Nachkriegsepoche hatte man die vollbeschäftigte Wohlstandsgesell-schaft und insofern das Glück der Vielen erfunden. Die Methode bestand in der Steuerung von Konjunktur und Wirtschaftsdynamik durch den Staat. Die Zent-ralbank bestimmte über die Zinsen den Preis des Geldes und damit die momen-tane Rentabilität von Investitionen. Die Öffentliche Hand steuert über die zeit-liche Verteilung von Staatsaufträgen wie Rüstung, Schul- und Straßenbau De-pressionen und Überhitzung aus. Sozialleistungen für Arbeitslose verhindern, dass im Krisentief die Nachfrage allzu sehr kollabiert. Dazu werden vom Staat kräftig Kredite aufgenommen, die man dann aus den im Boom stärker spru-delnden Steuerquellen zurückzuzahlen hat. Damit wird der sich zirkulär ver-stärkende Krisenmechanismus – Arbeitslose kaufen weniger, die Nachfrage sackt weiter ab und erneut folgen Entlassungswellen – abgebremst und gewen-det. Der Erfinder dieses Modells war Nobelpreisträger John Maynard Keynes; das Konzept wurde in der westlichen Welt als „Keynesianische Revolution“ ge-feiert. Das Problem der Arbeitslosigkeit galt als historisch bewältigt.
Keynes ist zur Unperson geworden. Sein Konzept gilt heute als unbrauchbar und hinfällig. Es beruht auf einer sorgfältigen Abstimmung von Zins-, Steuer- und Ausgabenpolitik und eben Nachfragesteuerung. Doch zum ersten werden die Zinsen nicht mehr von der Bundesbank bestimmt. Zum zweiten sind die Märkte weltoffen. Wenn Importe ein Drittel des Volkseinkommens erreichen, fließt ein staatlich getriggerter Nachfrageschub großenteils ins Ausland ab, anstatt hier die Konjunktur anzufeuern. Die Öffentliche Hand bliebe auf neuen Schuldenbergen sitzen. Eine Abschottung vom Weltmarkt ist längst undenkbar. Deutschland wäre pleite und ruiniert noch bevor die Handelsschranken hochgezogen oder auch nur im Gesetzesblatt abgedruckt sein könnten. Auch die Gewerkschaften erscheinen als gelähmt. Die Globalisierungshysterie setzt deutsche Arbeiter der Konkurrenz rechtloser Industriekulis der chinesischen Entwicklungsdiktatur aus, indischen Subsistenzlöhnen und Dumpingpreisen aus Südkorea oder sonst wo. Und versiert jonglieren Konzerne rund um den Globus mit Aufträgen und Investitionen – zumindest vermögen sie das glaubhaft zu machen.
Die EU (15) freilich hat insgesamt nur eine Importquote von etwa einem Zehn-tel ihrer Wirtschaftsleistung. Sie ist insofern eine geschlossene Ökonomie im Sinn von Keynes und könnte sehr wohl gesteuert werden. Die Geldpolitik – zu-mindest der Euroländer – ist bereits in einer Hand bei der Europäischen Zent-ralbank (EZB). Doch es gibt keine gemeinsame Finanz- und Wirtschaftspolitik und damit keine Konjunkturpolitik der EU. Das ist ihr entscheidendes Struktur-defizit. Wollten einzelne Nationen auf eigene Faust ihre Konjunktur anfeuern durch kreditfinanzierte öffentliche Aufträge und Sozialleistungen, so ist das noch abgesehen von der starken Handelsverflechtung innerhalb der EU von vornherein aussichtslos, wenn die EZB Gegenkurs steuert, die Realzinsen-hochtreibt und damit Investitionen und Ratenkäufe verteuert. Sollten sich meh-rere große Nationen der EU zu einer gemeinsamen Konjunkturpolitik à la Keynes zusammenfinden wollen, so ist auch für diesen Fall vorgesorgt. Der Vertrag von Maastricht verbietet eine Neuverschuldung von mehr als 3% des Inlandproduktes und diese Grenze wird 2004 bereits von 12 Nationen (EU 25, 6 in EU 15) durchbrochen werden. Bei Verletzung drohen bekanntlich Straffzah-lungen im Milliardenumfang. Damit degeneriert die EU zu einer bloßen Frei-handelszone.
Den Nationen sind bei der Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik die Hände abgehackt und auf Ebene der EU sind die Möglichkeiten dazu strukturell nicht existent. Gerade hat man sich in der EU-Verfassung in Steuerfragen auf Ein-stimmigkeit festgelegt. Damit gerät fast jeder Versuch einer Harmonisierung von Steuern ins Aussichtslose. Die EZB wieder bekämpft mit hohen Realzinsen ohne Rücksicht auf Arbeitsplätze eine nichtexistente Inflation. Das ist nicht un-plausibel. Wer von Lohnarbeit lebt, den können drei Prozent Inflation ziemlich kalt lassen. Das wird bei den nächsten Tarifverhandlungen wieder reingeholt. Ganz anders sieht es bei jemandem aus, der sein Geld arbeiten lässt und dieses Geld vielleicht zu 5% Zinsen festgelegt hat. Steigt die Inflation von ein auf drei Prozent, so verliert er die Hälfte seines Realeinkommens. Insofern besteht kaum ein durchsetzungsfähiges Interesse an einem Kurswechsel der EZB, deren Un-abhängigkeit von der Politik ja nach dem Modell der Bundesbank vertraglich fixiert ist. Die Schaffung einer wirtschafts-, finanz- und beschäftigungspolitisch handlungsfähigen EU erfordert Einstimmigkeit zur Überantwortung der ein-schlägigen Kompetenzen von den Nationen an Brüssel. Eine solche Entwick-lung hin zu einer Eindämmbarkeit von Arbeitslosigkeit wird deshalb mühsamer und weniger wahrscheinlich sein als deren Gegenteil.
Zum zweiten wächst die Produktivität. Die Industrie schafft den gleichen Out-put mit stetig sinkendem Arbeitseinsatz. Wenn wir immer weniger unserer Le-benszeit für die Herstellung des materiellen Komforts und Lebensnotwendigen aufwenden müssen, so ist das oberflächlich gesehen ein Glück. Gewiss könnte man es für einen günstigen Zufall halten, dass die Industrie just dann weniger Leute braucht, wenn der Bedarf an Altenpflege wächst. Real dagegen entrollt sich ein Desaster. Die Freigesetzten zahlen keine Sozialbeiträge mehr. Folglich ist weniger Pflege bezahlbar und deshalb pflegen zunehmend Billigkräfte aus Osteuropa. Und bei rapide wachsender Arbeitslosigkeit am Bau verrotten Ab-wässerkanäle und in Schulen und Kitas kriecht der Schimmel die Wände hoch. Wollte man raus aus diesen Abwärtsspiralen – die derzeit und demnächst Ar-beitslosen pflegen, bieten “wellness“ und stoppen die Verrottung – so erfordert das ein Mehr an Abgaben oder Steuern. Abschöpfungen und Umverteilungen wären zu organisieren. Bislang widersteht unser politisches Management der Versuchung, solches auch nur zu wollen. Der Bannstrahl von Boulevardpresse, Verbänden und einer seltsam konformen Expertengemeinde stoppt im vorab schon jeden alternativen Denkansatz. Und mit den Schulgebäuden und mit der Verlässlichkeit sozialer Absicherung verfällt die Identifikation mit dem Ge-meinwesen und der soziale Zusammenhalt. So verwandelt sich beim Selbstlauf der Marktkräfte der Produktivitätsgewinn statt in Wohlstand in wachsende Ar-mut.
Ach ja, die Globalisierung. Zum einen sollen wir ihr enthusiasmiert entgegen-blicken, weil globale Konkurrenz die Preise drückt und folglich den Wohlstand steigert und Deutschland als große Exportnation davon enorm profitiert. Zum andern haben wir ihretwegen den Gürtel enger und enger zu schnallen, Löhne zu senken, unbezahlt länger zu arbeiten und den Sozialstaat abzuwracken, um nicht vollends unterzugehen, denn einen Ausweg, den gäbe es nimmer. Seit Jahren wird sie zu einem Zerrbild gesteigert, als stehe fast jeder Job unter Verlage-rungsdruck nach Asien oder Osteuropa. Man erklärt die schnelle und vorausei-lende Anpassung an sich rasant verschärfende Zumutungen von Global Playern zur einzigen realpolitischen Option. Steuerverzichte und Subventionsüberange-bote zum Anwerben von Investoren oder bei Bleibeverhandlungen von Firmen in der Region, Zurückstutzen von Umwelt-, Sozial- und Arbeitsschutzstandards auf das international vorfindbare Minimum gelten als Inkarnation des Pragma-tismus und Gebot der Stunde.
„Kapitalgesellschaften leisten in ihrer Gesamtheit überhaupt keinen Beitrag mehr zur Staatsfinanzierung“, so der Chefkommentator des „Handelsblattes“ nach der Steuerreform 2000. Doch deren Klagen über erdrückende Steuern dauern an. „Die „Steuerlast“, über die die deutsche Wirtschaft immer noch klagt, ist eher ein Phantomschmerz“, so das „Handelsblatt“ (28.8.01). Bei einer Steu-erquote von real nur noch 14,2% trägt sie die in der EU mit Abstand niedrigsten Steuern mit der Ausnahme Griechenland. Ihr Anteil am Steueraufkommen ist auf 11,6% gefallen. 1980 erreichten die Ertragssteuern auf Unternehmens- und Vermögenseinkommen 94% des Lohnsteueraufkommens; 1990 waren es noch 80 %, 199 73 % und 2003 54 %. 2000-03 stiegen die Unternehmensgewinne um 24 Mrd. €, doch deren Steuerlast ging um 33 Mrd. € und damit um ein Drittel zurück (Berechnung von Obermair und Jarras, Mitglied der Kommission zur Reform der Unternehmensbesteuerung und des Wissenschaftlichen Beirates der Kommission zur Reform der Gemeindefinanzen.) Die Gesamtausgaben des Bundes für Bildung, Wissenschaft Forschung und Kultur belaufen sich 2004 auf 11,9 Mrd. €; dies zum Vergleich.
Scheinbar unaufhaltsam sinkt der Teil des Volkseinkommens, der zur Finanzie-rung von Gemeinschaftsleistungen herangezogen werden kann. Alternative zu diesem „race to the bottom“ ist die Herausbildung eines Global Government, welches den Global Playern der Wirtschaft Minimal- und Rahmenbedingungen setzt, diese mit supranationalen Institutionen absichert und diejenigen Staaten aus dem Welthandel ausgrenzt, die ihre Mitwirkung verweigern. Bislang
beschränken sich die Chefs der G7 oder 8 oder 9 so ziemlich auf den Mei-nungsaustausch ziemlich identischer Meinungen, die OECD auf Statistiken und beide gemeinsam mit der WTO (der Welthandelsorganisation) auf das welt-weite Schleifen von Barrieren gegen Billigstimporte du den absolut freien Ka-pitalverkehr, auf das jede noch so mikroskopische Steuer- oder Zinsdifferenz und Dollarschwankung sofort versilbert erden kann, auch wenn sich Instabilitä-ten hochschaukeln und dann hin und wieder die Staatengemeinschaft zwei- oder dreistellige Milliardenbeträge hinblättern muss , siehe Mexico- und Asien-krise, um den Zusammenbruch des Bankensystems zu verhindern. Über die Feuerwehrfunktion hinaus hat man Ansätze zu einer dringend gebotenen welt-wirtschaftspolitischen Struktur nicht zustande gebracht du auch nicht so recht gewollt.
Hier ist die EU gefordert, Bedingungen durchzusetzen, die den Vorteil einer fai-ren weltweiten Arbeitsteilung belassen und zugleich den Unterbietungswettlauf bei Steuern, Sozial- und Umweltstandards abbremsen. Das ist aushandelbar zwischen einer Handvoll von Partnern wie der USA/NAFTA, der EU, Japn, China u.a.. Auf einen Konsens von 40 bis 100 Partnern wird man hinverhandeln bis nach der übernächsten Klimakatastrophe. Deshalb ist eine handlungsfähige EU Voraussetzung einer Rettung des Wohlstandes. Bislang freilich richtet sie ihre Energie eher darauf, den „rae to the bottom“ auch innerhalb Europas freie Bahn zu sichern. ( Mit der neuen Dienstleistungsrichtlinie z.B. soll das „Her-kunftslandprinzip“ durchgesetzt werden. Für Firmen aus Lettland oder Polen oder deutsche Firmen, die sich dorthin formal umgemeldet haben, und die in Deutschland arbeiten, gelten dann polnische oder lettische Sozialstandards. Min-destlöhne auf dem Bau wie nach deutschem Entsendegesetz sind dann rechtswidrig, denn EU-Recht bricht nationales.) Unbezweifelbar ist die europäi-sche Einigung eine der großen Erfolgsstories der letzten Jahrhunderthälfte – Doch was jetzt für eine EU auf uns zukommt – eine nach außen und innen hand-lungsfähige neue politische Qualität oder eine Macht zur ersatzlosen Paralysie-rung nationaler Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik , wo man in Brüssel den höchstzulässigen Neigungswinkel der Nummernschilder von Mofas bestimmt und die Anhängerkupplungen gummibereifter Ackerfahrzeuge harmonisiert und ansonsten Sorge trägt, dass sich sozial die miesesten Standards europweit durchsetzen – das wird letztlich über deren Fortexistenz entscheiden.
Auch in Sachen Globalisierung bedarf die politische Aussteuerung eben nicht nur eines Mindestmaßes an Engagement, Ideen, diplomatischem Geschick und Kooperation, sondern vorab einer entsprechenden Interessenlage machthabender Eliten. Das kurzzeitige Fitmachen von Nationen für die Standortselektion von Global Playern durch Schleifen sozialer und rechtlicher Standards ist ohnehin der nahe liegende und zunächst sehr viel leichtere Weg. Er führt absehbar zu einer sozialen Wirklichkeit, in der die Ressourcen für Solidarität und karitatives Engagement dahinschmelzen
Für Viele wird es zur mentalen Belastung, Elend und Bedürftigkeit neben sich hinzunehmen. Spontane Hilfsbereitschaft war mit den Erziehungsgeboten der vergehenden Kultur jahrhundertelang eingeprägt worden und ist emotional oft tief verankert. Vorarbeit zur alsbald vielleicht überlebensnotwendigen Entsen-sibilisierung leisten Flimmermedien und Boulevardpresse mit ihrem Strom von Gräuel- und Schockberichten. Gegen das milliardenfache Elend dieser drei Wel-ten anzuspenden erscheint ohnehin fast jedem schon als sinnlos. Der fast stete Konsum hautnah präsentierten Gemetzels und Dahinsiechens von wo auch im-mer stumpft irgendwann unvermeidbar ab. Eine solche Überwindung von Mit-leid und mitmenschlicher Sensibilität wird zur Bedingung des seelischen und sozialen Friedens. Denn ein allzu starkes Auseinanderklaffen von Bewusstsein und gesellschaftlicher Wirklichkeit bringt nun mal Unruhe und Instabilität mit sich.
Die modernen Staaten haben in ihrer Geschichte eine Abfolge von Entwick-lungsstadien durchlaufen und sich dabei mit stets neuen Aufgaben befrachtet. Zunächst bietet der Staat kraft militärischer Macht Schutz vor äußerer Gewalt. Als Gewaltenmonopol gewährleistet er den inneren Frieden. Als Nationalstaat verkörpert er kulturelle Gemeinschaft und nationale Identität. Als Rechtsstaat bringt er die soziale Wirklichkeit in eine gewisse Übereinstimmung mit den Ge-rechtigkeitsvorstellungen seiner Bürger. Als Sozialstaat sichert er das Überleben und das auf menschenwürdigem Niveau. Als wirtschaftspolitischer Akteur schließlich gewährleistet er Rahmenbedingungen wirtschaftlicher Tätigkeit, schafft Infrastruktur und organisiert komplementäre und Vorleistungen wie Ausbildung und Forschung. Diese Stadien sind jeweils mit der Erwartung ei-ner bestimmten Lebensqualität für jedermann verbunden und mit einem be-stimmten Verständnis von Mitmenschlichkeit.
Derzeit wird diese Entwicklung im Rückwärtsgang durchlaufen. Vorbedingun-gen der Erfüllbarkeit staatlicher Funktionen sind Information, Ressourcenbeschaffung, Steuerungs- und Sanktionsfähigkeit. All dies scheint im Zuge der Globalisierung in Frage gestellt. Gegenüber dem Kapital verliert der Staat oder verzichtet auf die Fähigkeit der Steuerung, der Besteuerung, der Information und der Sanktion und ein erblindeter Staat ohne Geld, Kompetenz und Durch-setzungsfähigkeit ist keiner. Mit dem Verlust von Fähigkeiten zur Steuerung der Wirtschaft regrediert die postmoderne Demokratie zum Sozialstaat, unter dem Druck schwindender Steuern und leerer Kassen vom Sozialstaat zum Rechtsstaat und unter dem Druck wachsender sozialer Spannungen, Kriminalität und Gewaltbereitschaft wird es Übergangstendenzen geben zum Staat als blo-ßem Gewaltmonopol. Diese Regression des politischen Systems verlangt und verursacht den korrespondierenden Bewusstseinswandel, das Niederringen und Ausmerzen eines auf Fürsorge ausgerichteten Verständnisses des Sozialen. Politischer und mentaler Epochenwechsel tragen sich gegenseitig und setzen einander voraus
Noch scheint es offen zu sein, ob sich das politisch-soziale System auf den Ver-änderungsdruck mit Regression oder mit einem Entwicklungsschub zu reagie-ren bequemt. Noch ist nicht ausgeschlossen, dass die EU einen unverzichtbaren Teil dieses Entwicklungsschubes verkörpern wird. Ein Entwicklungsschub frei-lich erfordert Agieren, eine Regression nur Reagieren.
Kommt es nicht zu einem Paradigmenwechsel von Ideologie, veröffentlichter Meinung und der ihr symbiotischen Politik, so kommt eine soziale Spaltung auch in Deutschlands rasch voran, die mit einer neuartigen Kälte zwischen den Schichten einhergeht – auf der einen Seite die Fastfoodfresser, gelbfingrigen Zigarettensauger, RTL-, Vox- und Pro7-Glotzer und gepiercten Bierdosenhal-ter, die mit sich und dem Leben verflucht wenig anfangen können, auf der and-ren Seite berührungsfremd und angeekelt von jenen die Mitläufer einer taffen markenkonformen durchgestylten Spaßgesellschaft, die Armut für das größte Verbrechen halten und kaum einen Misserfolg verzeihen, und dazwischen eine unauffällige Mehrheit, die in Angst vorm sozialen Abstieg verstummt. Doch es wächst auch die Kälte zwischen denen, die immer mehr arbeiten müssen, und denen, die nicht arbeiten dürfen.
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