Nichts ging mehr. Die Glastüren von Supermärkten und Ämtern waren noch mit Schlüsseln zu öffnen. Doch an den Kassen herrschte das blanke Chaos. Die Taschenrechner konnten mit Strichcodes nichts anfangen. Preislisten der wichtigsten Waren wurden von Hand erstellt, die anderen Preise Pi mal Daumen flexibel nach oben standardisiert. Im Konflikt, Diebstahl en gros im Dreivierteldunkel hinzunehmen oder ihre Frisch- und Tiefkühlkost selbst entsorgen zu müssen, entschieden sich die Filialleiter meist für eine Teilöffnung ihrer Märkte unter Funzellicht. Niemals zuvor gab es soviel Kaufgier und niemals ging alles so mühsam vonstatten. Kassiererinnen, des Rechnens entwöhnt, jenseits des Nervenzusammenbruchs. Tiefkühlkost und auch kurzlebige Frischprodukte mussten kaum wertberichtigt werden. Stößeweise schleppte eine seltsam entschlossene Kundschaft fast glücklich wabbelige Pizzen und halbaufgetauten Fisch aus den Kaufhallen. Konserven waren sofort weg aus den Regalen. Wütende Kunden behaupteten lautstark, das Personal selbst habe sich fast alles an Notnahrung unter den Nagel gerissen. Dabei ist das Löffeln von kalten Fertiggerichten kein Labsal. Man karrte nach Hause, was es an Ess- oder Trinkbarem zu greifen gab. Schier endlos schoben sich Autokolonnen hamsternder Väter und Mütter von Laden zu Laden und verstopften die Anfahrt für das, was an Zulieferung noch auf den Straßen war.
Banken gaben Bargeld wieder per Hand über den Tresen, die Schalter leicht attackierbar von beherzten Marodeuren. Mit demonstrativem Gleichmut und Pokerface notierten die Schaltermenschen die Personalien von Kunden, schrieben und schrieben und hefteten Zettel auf Zettel. Bald gingen die Scheine zur Neige. Kontenverkehr war ohnehin ohne Computer nicht machbar. Kaum jemand konnte noch wissen, was bei ihm zu- oder abgebucht hätte sein müssen. Doch die Bedeutung von Geld verlor sich.
Die Hähne an den Zapfsäulen verhöhnten gereizte Automobilisten mit einem leeren Klicken. Nur gelegentlich kamen Behelfe wie Handpumpen zum Einsatz. Keine Züge, nicht mal dieselgetriebene; die Weichen- und Signaltechnik lag stromlos darnieder. Selbst die Busse fielen fast alle aus, auch die waren offenbar kaum zu betanken. Dass die meisten nicht zur Arbeit durchkamen war nicht allzu belangvoll. Auch den Maschinen fehlte der Strom, Telefonen und PCs desgleichen. Die sich durchgeschlagen hatten zum Job sahen rasch, dass sie besser Zuhause geblieben wären. In den kalten Schulen versuchte man zunächst mit Leibesübungen und heroischem Einsatz von Phantasie die Gemüter vorm Absturz zu bewahren.
So dicht war taglang klebriger Nassschnee gefallen, dass man keine zwei Meter weit zu sehen vermochte. Dann unvermittelt dieser schroffe Kälteeinbruch, bald mit eisigem Sturm. Arm- ja beindick umschloss das Eis die Hochspannungsleitungen, oft noch zu zentnerschweren Zapfen geformt. Und riesig hingen Eisstalaktiten an den ausgebreiteten Armen der Masten. Leitungen rissen, vom Angriff des Sturmes bröselig geworden, in Stücke oder hingen halbiert in die Felder. Reihenweise brachten sie die hohen Stahlungetüme zum Knicken oder hatten sich beim Tanzen im Sturm aus den Halterungen gelöst und rissen beim Sturz Stahlteile mit. Bäume, von der Last des gefrorenen Nassschnees gebrochen, stürzten auf Kabel und zerfetzten die Stromtrassen der Bahnen. Chancenlos, die Unzahl von Brüchen binnen Tagen zu reparieren.
Einige Tage hielten Notaggregate die Melkmaschinen am Laufen, kam noch Milch durch in Läden, wo sie rasch von Schöpfkellen in Krüge ausgeschenkt wurde. Immer vergeblicher rotteten sich durchfrorene verbitterte Frauen vor Läden zusammen, bei denen Gerüchten zufolge Milch hätte angeliefert werden können.
Kein Straßenlicht, in den Zimmern Kerzen, solange der Vorrat reichte. Die Bildschirme blind, stumm die Boxen. Die Langeweile trieb die Animositäten hoch. Romantische Gemüter glaubten ein Wiederaufkommen von Innerlichkeit und eines Worte suchenden Miteinanders wahrzunehmen, dessen man lange entwöhnt war. Manche priesen die Ruhe, die sich über die Wohnviertel gelegt hatte, und das Pausieren von den Stressroutinen, freuten sich des Zwangsurlaubs und lehnten sich entspannt zurück, nachdem die Hamsterei sich erschöpft hatte. Empfindsame Naturen lobten das Verschwinden der elektromagnetischen Felder, behauptetet, erstmals seit langem wieder ausgeruht aufzuwachen. Andere fanden es angenehm, dass die Nacht wieder zur Nacht geworden war, nicht mehr durchseucht vom Licht aufdringlicher Reklamen, von Peitschenlampen vorm Haus und aufblendenden Scheinwerferkegeln. Jugendliche, von ihren PCs im Stich gelassen, vergnügten sich mit Bandenkriegen, Vandalismus und Plünderungen, gefielen sich gelegentlich in Vergewaltigungsjagden, dankbar die unversehrte Dunkelheit nutzend, und versammelten sich, Beute verteilend, im Wald um nächtliche Feuer.
Dass die Netze nicht binnen Tagen zu flicken waren und bald der Mangel an Ess- und Trinkbarem und an Wärme alles dominieren würde, das freilich war nicht zu verdrängen. Auf handgeschriebenen Anschlägen gab es informationsähnliche Verlautbarungen, empfangen über Notnetze irgendwelcher Dienste. Aber auch die waren dürftig und halfen nicht weiter. Ursachengestammel, Bitten um Verständnis, Danksagungen für Geduld, man tue das irgend Mögliche et cetera.
Auf Hamsterfahren in die Dörfer wurde weithin verzichtet, auch wegen des Mangels an Treibstoff. Und wer hatte schon noch Handwagen. Viel zu holen war da bereits nach wenigen Tagen ohnehin nicht. Die agroindustriellen Unternehmer waren eben nicht die miesen, knallhart verhandelnden, aber doch mit Essbarem versehenen Bauern, die einst den Großeltern Teppiche und Schmuck für einen Sack Kartoffeln, eine Speckschwarte und zwanzig Eier abgenommen hatten. Ohne Strom keine Lüftung in den Ställen, keine Heizung und keine Futterverteilung. Und kein Wasser wurde hochgepumpt aus den tiefgebohrten Brunnen. Aussichtslos, die wachsende Qual der überspannten Euter zu mildern. Ungewohnt die Fingermuskeln dem Melken. Vielleicht zehn bis fünfzehn Kühe waren bewältigbar, doch eben nicht hundert. Zuerst krepierten die Ferkel, schon nach Stunden. Wenn Hunderte von Muttersäuen und Rindern nach Futter, Wasser und Wärme brüllen und die Luft ausgeht in den Ställen, so schlägt das auch abgehärteten Viehwirten auf Nervenkostüm und Gemüt. Erstaunlich, wie agroindustrielle Fressmaschinen im Todeskampf wieder zu Tieren wurden. So blieben selbst Bauern angesichts des Verendens ihres lebenden Kapitals nicht ohne Mitleid und unerschüttert.
Das Schlimmste, das war die Kälte. Die Fenster mit Decken verstopft, aneinander geschmiegt unter unförmigen Kleiderwülsten die fröstelnden Körper im jeweils kleinsten der Zimmer, die klammen ungewaschenen Finger wärmesuchend vorm Mund oder ineinanderreibend oder im Ärmel geborgen. Ein paar Stuben in alten Häusern mit Kachelöfen wurden Orte eines Notkommunismus, Horte des Überlebens. Wer einen Kamin besaß, dessen Haus wurde rücksichtslos vergemeinschaftet, da wurde der Stadtpark zu Rauch. Manche hatten noch die Berichte von Großeltern in den Ohren, wie man sich trick- und fintenreich durchgeschlagen hatte nach Kriegsende. Doch das jetzt war von anderer Art. Es gab kaum Chancen, sich fasziniert darbend in Pfadfindermanier abenteuerhaft über die Runden zu retten. Die Möglichkeiten, zu improvisieren, waren dürftig. Wer hatte schon noch Kachel- oder Kanonenöfen zum Verfeuern von Briketts, zersägten Obstbäumen, Propagandamaterial und Klassikerausgaben? Gewiss, Gasflaschen und Brenner wurden aus Lauben in Wohnungen geschleppt, doch nicht viele waren so ausgestattet. Nichts gab es zu klauen an Überlebensnotwendigem aus Güterwaggons, von Pferdewagen und LKWs, nichts zu schnorren bei Besatzern, nichts sinnvoll zu tauschen, kaum Schieber und Schwarzmärkte.
Ohne Wasser verfiel die Hygiene dramatisch. Selbst der Schnee wurde knapp in den Städten. Rasch waren die Leitungen vereist und geplatzt, auch die Notpumpen in Ruhe. Wassertürme hatte man vor Jahrzehnten schon stillgelegt und oft in spleenige Behausungen verwandelt. In Eislöchern gefüllte Wassereimer wurden mit klammen Händen durch die Straßen geschleppt. Alten- und Pflegeheime verzeichneten hohen Abgang. Beerdigungen ohne Maschinen waren in der Kälte kaum drin. Man sparte das bisschen Kraft fürs Leben. Die Flächen zwischen den Wohnsilos und Mietshäusern gepflastert mit gefrorenen Defäkaten. Die Fenster wurden ohnehin selten geöffnet. Nervöses Geballer von Wachdiensten. Keine Alarmanlage intakt, kein Notrufsystem. Plünderer von Tag zu Tag dreister.
Die normierende Wirkung der Jobs und der Kollegenschaft war weg. Die einen fanden sich zusammen in Bürgerwehren, zu Hilfs- und Notversorgungsbrigaden, die freilich wenig mehr organisieren konnten als sich selbst. Andere, vor allem welche, die sich recht gut mit Vorräten versorgt glaubten, zogen sich zurück, verfielen ins Eigenbrötlerische. Und es gab alsbald die, die genug hatten vom Darben und Warten, von den Demaskierungen anderer und ihrer selbst, die einfach sich der Passivität anheim gaben wie einer neuen Geborgenheit, die Wohnung nicht mehr verließen und den erlösenden Schlaf erhofften.
Pflegekräften, Ärzten, Pfarrern und sonstigen Seelentröstern wuchs eine lange nicht erfahrene dankbare Hochachtung entgegen. Kirchen und Sekten hatten ihre Zeit, verhießen verheerende Unbill den noch immer nicht Reuigen und Bill den Braven, zogen, enthusiasmiert vom Gespür nahender Apokalypse, die Register von Heil und Gericht, schufen Gemeinschaft. Dabei waren doch nur Hochspannungsleitungen gerissen und Stahlmasten gekippt.
„Just in time“ zeigte jetzt seine Kehrseite. Ohne Material und Energie war nichts zu erzeugen. Wo nichts erzeugt wird, braucht man kaum etwas zu transportieren. Wo nichts angeliefert wird, kann man nichts kaufen und braucht kaum Geld. Und wer mit Geld wenig anfangen kann, ist nicht sehr anheischig, Dienstleistungen anzubieten. Irgendwie verfestigte sich dieser Zustand.
Viele sparten den Tankinhalt auf für die Flucht in derzeit bewohnbare Regionen und fuhren meist doch nicht los, hielten, wie sie sagten, die Stellung wegen der Plünderungen. In Wahrheit wusste kaum jemand mit leidlicher Gewissheit, wohin und wie weit zu fahren wäre, geschweige, wie die Chancen durchzukommen wären oder ob man irgendwo auf blockierten vereisten Straßen dann weder vor- noch rückwärts käme, wusste auch kaum vom Schicksal derer, die aufgebrochen waren. Eine Mischung aus Angst, Trägheit und Hoffnung auf Strom oder Wetterwechsel oder Hilfe von außen blockierte den Aufbruch.
Dabei gab es in den großen Städten, denen mit E-Werk, noch versorgte Bereiche. Nur die Leitungen waren ja ausgefallen, nicht die Erzeugung von Strom, solange die Vorräte der Werke reichten oder diesellockgetriebene Kohletransporte auf geräumten Strecken trotz Ausfalls der Stellwerktechnik irgendwie durchkamen. Doch auch die Förderanlagen brauchten Strom und auch die Verladung der auf Halde liegenden Vorräte. So war es fast nur Importkohle, die noch anrollte. Was an Kabeln im Boden verbuddelt war, hielt. Hier in den Ballungszentren gab es Wärmebereiche, beheizte Häuser, selbst Büros und Werkstätten mit Licht. Nicht das Land, die große Stadt schien diesmal der Rückzugsbereich fürs Überleben zu sein, vorerst zumindest, weil Kälte rascher durchgreifen konnte als Hunger, und fleisch- und milchlose Zeiten gewöhnbar sind. In anderen Worten, Strom war zumindest auf kürzere Sicht fürs Überleben wichtiger als jede Verbindung mit der Erde.
Man sehnte sich in den Großstädten nicht nach denen, die da von außerhalb angefröstelt oder halberfroren angetrottelt kamen, mit scharfem Geruch wegen langem Wassermangel, und die in überfüllte Wärmeräume drängten. Doch Abweisen ging nicht. Eine Art Ausnahmezustand musste bisweilen das Notwendige sichern, denn im Zeitraffer regredierte bei manchen Moral und Verhalten noch unter Steinzeitniveau, beschränkten sich Mitgefühl und Rücksicht allenfalls auf die Kleinfamilie.
Als erstes hatten die Kernkraftwerke Nutz und Funktion verloren. Als einzige zwar hatten sie keinerlei Rohstoffproblem, doch sie standen nun mal nicht in oder nahe den großen Städten – das hatten die Kampagnen technikfeindlicher Ideologen verhindert. Folglich waren deren Leitungen weit überm Land fast alle vom Wetter gekappt, zumal sich rächte, dass wegen der Ausstiegsvorgaben seit langem kaum ein Cent noch in diese Netze investiert worden war.
Irgendwann kamen Kolonnen von Bussen, beladen mit Überlebensfracht, voran Panzer und Räumfahrzeuge. Zuerst die mit Säuglingen und kleinen Kindern, so hieß es. Halbvermummte mit MPs sollten andere in Schach halten. Handzettel wurden verteilt. Sehr groß sei diesmal die betroffenen Region, vielfach größer als bei jenem kurzen Stromdesaster vor Jahren im Münsterland. Kreis um Kreis werde evakuiert. Wohin, das blieb unklar. Die Rewonfall AG, der Strommonopolist, versicherte die Bevölkerung ihres Mitgefühls in dieser so lange schon anhaltenden Notlage, warnte noch einmal dringend davor, sich den herabgestürzten und auch den noch nicht herabgestürzten Leitungen zu nähern und informierte vorsorglich, dass Schadenersatzforderungen an den Konzern keinen Sinn haben würden. Denn es handle sich um höhere Gewalt. Das war zumindest geometrisch gesehen kaum zu bestreiten. Nach der „Verordnung über allgemeine Bedingungen für die Stromversorgung von Tarifkunden“ würden die Versorgungsunternehmen bei Versorgungsstörungen nur bei Vorsatz oder grober Fahrlässigkeit haften. Naturereignisse lägen außerhalb jeder Verschuldungszurechnung. Auch habe man sich im Zuge des Kostenschubs der Netzreparaturen auf Tarifanpassungen einzustellen. Hilfreich gab Rewonfall jedoch in ihrem Handout zu wissen, dass Hausratversicherungen mit Gefriergutklausel für wegen Stromausfall verdorbenes Gefriergut aufkämen, während Elementarschadensversicherungen nur für Schäden hafteten, die direkt von Naturgewalten Haus oder Wohnung zugefügt worden seien. Da der Schnee jedoch auf die Hochspannungsleitungen und nicht auf die Häuser gedrückt habe, bestehe kein Schadensersatzanspruch. Großzügig werde Rewonfall jedoch jedem Kind, dass in diesen Wochen in den betroffenen Regionen gezeugt worden sei, bei Geburt ein Begrüßungsgeld von 300 Euro auf Antragstellung bei Vorlage der Geburtsurkunde zukommen lassen und das unabhängig vom Einkommen der Eltern. Eine solche Geste sei schon damals beim Schneedesaster im Münsterland von der Kundschaft sehr positiv aufgenommen worden und habe deutlich zu einem wieder gedeihlichen Miteinander beigetragen.
Diesmal jedoch empfand man diese Großzügigkeit eher als Hohn. Die vom Land gekommen waren in jene Großstädte, wo ein öffentliches Leben noch oder wieder lief, wo es Versammlungen gab und Medien, gerieten ihrer Verbitterung wegen rasch an die Grenzen unbeherrschbarer Gewaltbereitschaft. Demagogen nutzten die Gereiztheit zu Verbalattacken gegen Stromversorger und alle Privatisierung von Infrastrukturen. Erinnert wurde an jüngstvergangene Verlautbarungen der Branche und professoraler Experten, dass das, was eingetreten war, mit Sicherheit nicht eintreten konnte. Überkapazitäten noch und nöcher, Netzdichten wie fast nirgendwo sonst in der Welt, Computer, die bei Störung in Nanozeit in den Netzlabyrinthen die Umleitungswege schalteten – mehr Sicherheit sei gar nicht vorstellbar – so hatte man wiederholt gehört.
Rewonfall hielt entgegen, schließlich könne man das Unternehmen nicht für den globalen Klimawandel verantwortlich machen. Die Freileitungsmasten seien für hundert Jahre dimensioniert. Betriebswirtschaftlich sei es schlicht nicht zu verantworten, Netze auf bislang nicht oder kaum erfahrene Schnee-Eissturm-Belastungen hin auszulegen und im großen Stil noch nicht amortisierte Leitungsträger zu ersetzen. Die Zahl der Toten pro Kilowattstunde habe sich bislang weit unter den vorgegebenen Grenzwerten bewegt. Im übrigen sei schon bei dem Problemfall im Münsterland seitens der Siemens Netzplanung erklärt worden, die verwöhnten Bundesbürger müssten lernen, Naturgewalten zu akzeptieren. Wolle man alle Extremsituationen abfangen, so würde der Strom unbezahlbar. Es bestehe kein Optimierungsbedarf.
Irgendwie waren diese sachlichen Klarstellungen jedoch zumindest politisch suboptimal und ungeeignet, die Wogen zu glätten. Selbsternannte Experten brandmarkten, Rewonfall habe trotz absehbar wachsender Belastungen ihre Netze in keiner Weise auf größere Wetterfestigkeit hin nachgerüstet. Die Haushalte zahlten anderthalbmal soviel für die Netzdurchleitung wie für den Strom selbst. Das Monopol am Netz, das sei etwa dasselbe als würden BMW, Daimler, Volkswagen und Opel das deutsche Autobahnnetz besitzen, satte Gebühren kassieren und Fahrzeuge anderer Marken nur bei noch saftigerer Maut fahren lassen. Die Durchleitungsgebühren seien teils fünfmal so hoch wie anderswo. Doch Rewonfall habe seit der Liberalisierung der Stromwirtschaft ihre Investitionen in die Netze um dreiviertel gekürzt, von acht auf zwei Milliarden Euro pro Jahr, und dennoch bei den Preisen wieder und wieder drastisch draufgeschlagen. Zu Tausenden hätten sprödbruchgefährdete Masten mit längst ermüdetem Thomas-Stahl, oft über ein halbes Jahrhundert alt, in der Landschaft gestanden; viele seien wie Streichhölzer abgeknickt. Auch Fälle, wo Stahlträger mit Zusatzleitungen überlastet worden seien, wurden behauptet. Skandalös sei es, dass nach noch immer geltendem Recht nach Maßgabe unternehmerischer Eigenverantwortung Stromkonzerne sich selbst das TÜV-Siegel für die von ihnen aufgestellten Masten ausstellen.
Der Konzern erklärte, die Bundesnetzagentur habe durch aufoktroyierte Preissenkungen Erträge verhindert, mit denen man die Netze hätte modernisieren können. Gewiss, die Renditen hätten sich multipliziert. Doch der Vergleich mit der Vergangenheit sei irrelevant. Geschäftszweck von Rewonfall sei es nicht, auch unter Extrembedingungen verlässlich Strom zu liefern, sondern eine gedeihliche marktgerechte Rendite zu erbringen. Und was für eine Rendite gedeihlich sei, das werde von den internationalen Finanzmärkten diktiert und habe sich eben drastisch dynamisiert. Wenn jedes Quartalsergebnis in makellosem Glanz erscheinen müsse, blieben für kostenaufwendige Vorsorge für wenig wahrscheinlich Geschehnisse weder finanzielle Ressourcen noch Managementkapazitäten. Das Pochen auf die grundgesetzlich fixierte Allgemeinwohlverpflichtung des Eigentums sei leere Deklamation, solange die Exekutoren des Allgemeinwohls nicht für Löhne und Dividenden aufkämen. Die Marktwirtschaft sei ein Geflecht von Kausalzusammenhängen, und Kausalzusammenhänge seien weder moralisch noch unmoralisch, Akteure hätten wenig Freiräume. Auch der Hinweis auf ein Quasimonopol von Rewonfall helfe nicht weiter. Denn dem hätten die Aktienkurse längst Rechnung getragen. Es sei damit in den Renditen der Anleger schon neutralisiert.
Auch dieser Verweis auf Sachzwänge wirkte keineswegs kalmierend. Zu sehr hatten sich die Gemüter erregt. Niederlassungen des Konzerns wurden vandalisiert. Manager brauchten Personenschutz. Doch eisige Winter sind wenig geeignet für Aufstände oder Revolutionen, was immer man darunter verstehen mag. Und gegen wen eigentlich wollte man vorgehen? Gebäude zu brandschatzen, Computer aus den Fenstern zu kippen, Manager und Techniker außer Landes zu jagen – was konnte das anderes bringen als eine Verschlimmerung. Volkskontrolle, Enteignung, Verstaatlichung – Schlagworte wie diese wurden aus der Mottenkiste geholt. Strom gab es deshalb noch lange nicht wieder. Es wuchsen Zahl und Brutalität herumziehender Rotten, bei denen die Suche nach Ess- und nach Brennbarem mit der schieren Lust am Zerstören verschmolz. Das Zusammenwirken von Globalisierung und Klimawechsel hatte eine Brisanz produziert, die in dieser Region nicht vorausgesehen worden war. Auch die Bauernkriege waren ja, so wurde erinnert, von einem Klimawandel ausgelöst worden, als die Hälfte der deutschen Dörfer verödete und die Abgabenlast dem Niedergang der Erträge nicht Rechnung trug. Wie damals gerieten die sozial eher stabilen Städte vom Land her unter Druck. Und die großen Städte waren es auch diesmal, in denen sich die Lage nach nur wenigen Wochen wieder normalisierte und von denen aus nach und nach das Land befriedet wurde. Wie auch nach jedem Krieg ging die Rekonstruktion weit schneller vonstatten als fast jedermann zu hoffen gewagt hatte. Die Weltverbesserer hatten ihre Parolen wieder eingepackt. Die Konservenindustrie profitierte vom Drang nach Notreserven und die Bürgermeister buhlten bei der Rewonfall AG um den Listenplatz für den Wiederanschluss ans Netz.
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