Es war doch der wohlstandsstrotzende Westen, der dem endlich entfesselten Osten Deutschlands Blaupause und Vision sein sollte. Nun erleben wir das Gegenteil. Der Westen wird dem entschwundenen Realsozialismus erschreckend ähnlich. Ein Meilenstein auf diesem Weg zurück ist da schon mal der Mindestlohn. FDP-Chef Guido Westerwelle hat das klar auf den Punkt gebracht. Zitat: „Das ist wie die Planwirtschaft in der DDR, nur ohne Mauer.“ Eine Mauer freilich werden wir sobald wohl nicht brauchen. Denn dass Millionen vor dem Verbot, sich mit einem noch niedrigeren Lohn begnügen zu dürfen, über die Grenzen fliehen, ist kaum zu erwarten. Doch dieser Lohnzwang ist bei weitem nicht die einzige Parallele zur späten DDR. Auch heute verfällt die Infrastruktur, verrotten Straßen und Brücken, Schulen und Universitäten. Die öffentlichen Investitionen sind seit 15 Jahren um ein Drittel gefallen und decken – wie bei Honecker – nicht mehr den Ersatzbedarf. (Statt dem Erblühen von Landschaften im Osten breitet sich das DDR-spezifische Siechtum im Westen aus.
Die Armut der Alten im Spätsozialismus – bei uns ist sie zwar noch nicht Realität, doch dank diverser Reformen politisches Programm. Die soziale Absicherung wird auf das Existenzminimum zurückgefahren. In der DDR war keineswegs die Politik falsch. Es war die Schuld der Propaganda, diese Politik und Vision dem Volk nicht überzeugend vermittelt zu haben. Und als Gerhard Schröder die Stammwähler in Scharen davonliefen und ihm die Wahlen eine Kaskade von Katastrophen bescherten, auch da waren die Ursachen nicht die Agenda 2010 und nicht der sozialstaatliche Kahlschlag. Man hatte dem Volk diese zukunftsweisende Strategie nur nicht hinreichend erklärt. Und wie in der DDR wird mit einer seltsamen Neusprache Minus zu Plus verkehrt, wird die Kappung von Sozialleistungen als „Schaffung von Anreizen zur Arbeitsaufname“ etikettiert.
Ein Faszinosum im Ostblock war die eklatante Kluft zwischen Realität und Propaganda. Auch da erweist sich das neue Deutschland als lernfähig. Landauf landab verkündet die Kanzlerin. „Der Aufschwung kommt bei den Menschen an.“ Eine Anfrage im Bundestag aus den Reihen der FDP begehrte zu wissen, wo denn bei wem und wie der Aufschwung angekommen sei. Die Antwort war mehr als peinlich. Schließlich sind die Löhne erneut hinter dem Preisanstieg zurückgeblieben, von den Renten und Sozialleistungen ganz zu schweigen.
Auch die Kampagnenkultur der verblichenen Diktatur hat unser politisches Topmanagement inspiriert. „Du bis Deutschland!“, … bist Michael Schumacher, bist Albert Einstein, Ludwig Ehrhard und so fort – mit solchen Plakatwänden wurde das Land seit der Fußballweltmeisterschaft geradezu zugestellt. Nach einer jahrzehntelangen Negativkampagne über den Verfall des Wirtschaftsstandortes Deutschland war umgepolt worden, quasi übernacht, wie einst im Politbüro. Nation Branding ist jetzt angesagt, Nationalstolz als Wirtschaftsfaktor. Und wie in der DDR, freilich diesmal mit gigantischem Erfolg, wird das Land auf Export getrimmt, auf Weltmarktfähigkeit als höchsten aller Werte, während der Lebensstandard fällt.
In beiden Staaten wurde oder wird dem Volk ein totalitäre Ideologie aufgedrängt – in der DDR der weltweite Sieg des Sozialismus, für den man unausgesetzt zur Opferbereitschaft genötigtgedrängt wurde, in Deutschland heute die totale Globalisierung, wegen der wir den Gürtel ständig enger zu Schnallen haben und die auch irgendwann den Wohlstand der Menschheit mit sich bringt.
Im seltsamen Kontrast zur kommunistischen Ideologie stand die Kluft zwischen arm und reich, der wachsende Klassengegensatz zwischen Volk und Nomenklatura. Deren Versorgung lief über Sonderkanäle. Das Gehalt der Topchargen war nicht in Zahlen gefasst, sondern in Privilegien. Fast ein Zehntel der Landesfläche soll als Jagdgebiet fürs Politbüro nebst Entourage reserviert gewesen sein. Zu recht gilt der Realsozialismus als neofeudalistisches System, gesteuert nicht über Leistungen, sondern über Loyalität, Beziehungsgeflechte und Funktionärskult. Doch gegen bundesdeutsche Einkommenseliten wirkt die Wandlitz-Clique wie eine Meute armer Schlucker. Für das Gehalt von Bahnchef Mehdorn muss ein Normalbürger länger als ein Jahrhundert arbeiten, für das Jahreseinkommen von Deutsche-Bank-Chef Ackermann seit dem 30jährigen Krieg. Um 50 Milliarden Euro ist das Vermögen der 50 reichsten Deutschen im letzten Jahr gewachsen. Das ist das 25fache dessen, was man für die Ernährung von 2 Millionen Kindern in Hartz-IV-Haushalten übrig gehabt hat.
Im Spätstalinismus hatte sich die Nomenklatura zunehmend abgeschottet und aus sich selbst heraus rekrutiert, über Parteihochschulen und sonstige Kaderschmieden. Heute wird in Deutschland das Topmanagement auf Privatuniversitäten herangezüchtet, deren Semestergebühren eine fast unüberwindbare Barriere für Normalbürger sind und deren Examen lukrative Jobs sichert. Man bleibt unter sich.
Unübersehbar setzen sich typische Gepflogenheiten jener Epoche im Westen durch. Kurzum, der Osten siegt. Freilich bergen diese Neofeudalismen ein hohes Selbstzerstörungspotential. Wenn maßlosen Privilegien der Nomenklatura keine erkennbare Leistung mehr gegenüber steht, wenn die Krisen wachsen und die Menschen die Hoffnung auf eine halbwegs sichere Zukunft verlieren, dann sind solche Eliten bald abserviert. Das war 1789 in Frankreich der Fall und 1989 im Ostblock.
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