Von wem wird Deutschland im Herbst regiert und wer bestimmt das? Der Wähler oder doch der Zufall? Genau das wird zunehmend wahrscheinlich. Deshalb sind wesentliche Züge unseres Wahlrechtes grundgesetzwidrig. Das hat Karlsruhe im letzten Jahr erkannt und Änderung bis 2011 verlangt. Gestern hat der Innenausschuss des Bundestages in einer Expertenanhörung gestritten, ob nicht schon im September nach verfassungskonformem Recht abgestimmt werden soll.
Die Hälfte der Abgeordneten wird bekanntlich direkt gewählt. Wer in seinem Wahlkreis mehr Stimmen bekommt als jeder Konkurrent, der hat seinen Platz im Bundestag gesichert. Das gilt auch dann, wenn sein Stimmanteil weit unter 50 Prozent liegt. So kann es geschehen, dass in einem Bundesland eine Partei schon mit ihren direkt gewählten Kandidaten mehr Abgeordnete ins Parlament schickt, als ihr nach ihrem Anteil an den Wählerstimmen zusteht. Bekäme sie etwa in einem Land, das 50 Abgeordnete entsenden darf, 40 Prozent der Stimmen und doch in jedem der 25 Wahlkreise mehr Stimmen als jede andere Partei, so wären ihr diese 25 Mandate sicher, obgleich ihr nach ihrem Stimmanteil von 40 % nur 20 der 50 Mandate des Landes zufallen sollten. Zu solchen Überhangmandaten kam es früher nur selten. In den 7 Wahlen von 1965 bis 89 waren es insgesamt vier. Doch seither explodiert deren Zahl. Allein 2005 waren es bereits 16. Für diese Deformation unseres vormals doch fairen Wahlsystems gibt es zwei Gründe:
Wir haben ein „personifiziertes Verhältniswahlrecht“. Die Anzahl der Abgeordneten einer Partei soll ihrem Anteil an den Wählerstimmen entsprechen. Doch welche Personen im Parlament sitzen, das bestimmt zur Hälfte der Wähler mit seiner Erststimme. So ist es gewollt und das hat auch gut funktioniert – solange, wie es zwei etwa gleich starke Volksparteien gab. Doch das ist vorbei. In Ostdeutschland liegen Union, SPD und Linkspartei nahe beieinander und jede meist weit unter 50 Prozent. Zum zweiten verteilt sich die konservative Wählerschaft auf zwei Parteien, auf Christliche und Liberale, die eher links orientierte dagegen heute auf drei. So erreicht die CDU derzeit in den Umfragen 36, die SPD dagegen nur 26 Prozent. Folglich werden Überhangmandate sehr viel wahrscheinlicher und vor allem der Union zuhauf in den Schoß fallen. Sie können Schwarzgelb selbst dann die Kanzlerschaft sichern, wenn das von der Mehrheit der Wähler abgelehnt wird.
Zugleich kann das vertrackte System der Verrechnung zwischen Überhangmandaten und Plätzen auf den Landeslisten dazu führen, dass eine Partei mit wachsender Stimmenzahl weniger Sitze im Bundestag bekommt und mit weniger Stimmen mehr – so geschehen in Sachsen und in Bremen. Der Wähler weiß folglich nicht, ob er einer Partei mit seiner Stimme nutzt oder schadet. Das widerspricht eindeutig dem Grundgesetz. Zitat aus dem Urteil der Verfassungsrichter: „Der Effekt des negativen Stimmgewichts beeinträchtigt die Stimmengleichheit … in eklatanter Weise. ..Ein Wahlsystem, das …zulässt, dass ein Zuwachs an Stimmen zu Mandatsverlusten führt, … lässt den demokratischen Wettbewerb widersinnig erscheinen.“ Doch warum nimmt man sich für die Beseitigung dieses Missstandes drei Jahre Zeit? Es sei nicht verstehbar, warum das Gericht noch die Bundestagswahl 2009 nach einem verfassungswidrigen Wahlrecht zulässt, so gestern Professor Mahrenholz, vormals selbst Vizepräsident dieses Gerichtes.
Die Grünen haben einen verblüffend einfachen Weg aus diesem Dilemma aufgezeigt. Überhangmandate in einem Bundesland werden künftig von den Listenplätzen dieser Partei, die ihr bundesweit zustehen, abgezogen. Sie können dann kaum noch das Wahlergebnis verfälschen. Unterstützt werden sie dabei von SPD und Linkspartei und damit von der Mehrheit im Bundestag. Union, Liberale und deren Experten haben in der Anhörung gestern den Gesetzentwurf der Grünen abzublocken versucht. Aber ihre Argumente blieben erstaunlich schwach. Es gäbe so viel an Änderungswünschen, eine Absenkung des Wahlalters, ein Stimmrecht von Eltern für ihre Kinder, eine Ausdehnung der Legislaturperiode etcetera. Das alles solle man nach der Wahl in Ruhe angehen. Doch auch Bundestagspräsident Norbert Lammert hat ein verbessertes Wahlrecht noch für den Herbst als „unbedingt erwünscht und bei gutem Willen auch möglich“ erklärt. Ob dessen Durchsetzung die große Koalition vor der Sommerpause zum Platzen bringt – denn schließlich geht es dabei um die künftigen Machtchancen im Lande – ausschließen kann man das nicht.
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