Ein bisschen Mathematik muss sein. Wenn Wissenschaftler eine Prognose zur Rente aufstellen, greifen sie auf den „Altersquotienten 20/65“ zurück. Das ist die Anzahl der Menschen, die älter als 65 sind, ins Verhältnis gesetzt zu den Menschen im Arbeitsalter von 20 bis 65 Jahren. Dieses Verhältnis steigt – so glaubt man – von heute 32 zu 100 auf 52 zu 100 im Jahr 2030. 52 alte Menschen pro 100 Menschen im Arbeitsalter – das ist die Grundlage für die gängigen Szenarien von Alterskatastrophe, Rentendesaster und Lebensstandardkiller. Was die Globalisierung an Wohlstandsresten belässt, zerbröselt nach dieser Lesart im Zangengriff von Zeugungsverweigerung und steigender Lebenserwartung der Deutschen.
Doch ist diese gängige These wirklich haltbar? Schon heute kommen auf 26,6 Millionen sozialversicherungspflichtig Beschäftigte 20,1 Millionen Rentner. Das ist ein Verhältnis von 100 zu 75 und es wird, wenn auch nicht ohne Mühe, geschultert. Zugleich zahlen diese 26,6 Millionen Versicherten mit ihren Beiträgen auch den Lebensunterhalt von 1,4 Millionen Arbeitslosengeld-I-Empfängern. Und sie tragen zum Auskommen von 2,5 Millionen arbeitslosen und 2,6 Millionen sonstigen erwerbsfähigen Arbeitslosengeld-II-Empfängern bei. Unterstellt man für das Jahr 2030 den selben Anteil von Erwerbspersonen an der Zahl der Menschen im Alter von 20 bis 65 wie gegenwärtig, so ergibt sich mit 66 zu 100 ein milderes Verhältnis von Älteren zu Erwerbspersonen als heute zwischen sozialversicherungspflichtig Beschäftigten und gesetzlichen Rentnern. Selbst mit einer Arbeitslosigkeit von rund zehn Prozent würde die Belastung 2030 kaum höher sein als heute das Verhältnis von Rentnern zu Beitragszahlern.
Bessere Bildung
Im Klartext: Die hohe Arbeitslosigkeit und die von ihr mitverursachte Frühverrentung sind heute eine ebenso starke Bürde wie die für 2030 erwartete demografische Alterung. Die Arbeitslosigkeit wird bis 2030 stark absinken. Zum Ersten ist Knappheit an Arbeitskräften das zentrale Argument der demografischen Bedrohungsszenarien. Zum Zweiten ist die Beschäftigung in Deutschland in so hohem Maße vom Export getragen wie in keiner anderen größeren Nation. Und Weltmarktanteile gehen nicht deshalb verloren, weil die Zahl der Erwerbsfähigen schrumpft. Dem wird oft fehlende oder falsche Ausbildung entgegengehalten. Doch wir haben mehr als zwei Jahrzehnte, dieses Problem auf dem Arbeitsmarkt zu lösen. Wichtiger für die künftige Entwicklung ist ohnehin der „Gesamtquotient“ der Jungen und Älteren – die Zahl der Menschen jünger als 20 und älter als 65 zur Zahl der Menschen von 20 bis 65. 1970 lag er bei 78 zu 100 und ist dann stark abgesunken, auf heute 65 zu 100. Er wächst – wie man heute glaubt – bis 2030 auf 80 zu 100, folglich mit einer Jahresrate von 0,9 Prozent, und dann bis 2050 mit einer Rate von 0,5 Prozent. Keine bekannte Prognose der Produktivität liegt so niedrig. Die Produktivität der Arbeitsstunden hat von 1991 bis 2006 pro Jahr um zwei Prozent zugelegt. Unterstellt man keinen historischen Einbruch in der technischen Entwicklung, so könnte die wachsende demografische Belastung allein mit dem Produktivitätszuwachs bewältigt werden.
Der Schluss liegt nahe, dass es bei den Renteneinschnitten weniger um die Bewältigung von demografischem Stress geht als um das Absenken von Sozialbeiträgen der Arbeitgeber: 1989 waren alle Parteien zufrieden, mit den damals vereinbarten Rentenkürzungen die Beiträge bis 2030 unter 28 Prozent zu halten. Schon 1997 durften es nur noch 24 Prozent sein und heute 22 Prozent. Die erwarteten demografischen Belastungen haben sich seither nur wenig geändert; es sind die Kriterien gesenkt worden, wie viel an Sozialbeiträgen der Arbeitgeberseite zugemutet werden soll. Denn die Personalzusatzkosten mussten runter, um Deutschland globalisierungsfit zu machen. Doch ihr Anteil an den Arbeitskosten ist selbst in der exportorientierten westdeutschen Industrie niedriger als in Frankreich, Italien, Spanien, den Niederlanden, Belgien, Österreich und auch als in Tschechien.
Besondere Brisanz birgt bei den Rentenkürzungen die Einbeziehung von Mini- und Teilzeitjobs ins Rentensystem. Laut Rentenformel bestimmt sich die jährliche Rentenanpassung aus dem Verhältnis der „Bruttolohn- und -gehaltssumme je durchschnittlich beschäftigten Arbeitnehmer im vergangenen Kalenderjahr“ zu der des Vorjahres. Die Crux liegt in dem Wort „durchschnittlich“. Fällt dieser Quotient um einen bestimmten Prozentsatz, so jedermanns Rente desgleichen. In die Berechnung dieses Durchschnittslohnes gehen jedoch alle Arbeitnehmer ein, auch Teilzeitkräfte, egal, wie viel sie arbeiten, und auch die Minijobber mit 400 Euro im Monat – und zwar mit demselben statistischen Gewicht wie Vollzeitkräfte. So sinkt mit jeder Million neuer Minijobber der Durchschnittslohn und damit jedermanns Rente um etwa drei Prozent. Es spricht jedem Rechtsverständnis Hohn, dass die Rente eines Menschen, der sein Leben lang Vollzeit gearbeitet hat, gekürzt wird, nur weil Minijobber in den Arbeitsmarkt eintreten, die selbst nur geringe Rentenansprüche erwerben.
Fundamentaler Denkfehler
Der Verfall der Renten soll durch Privatvorsorge ausgeglichen werden. Diese Strategie ist zur Abmilderung des demografischen Problems schlicht wirkungslos. Ihr liegt ein fundamentaler Denkfehler zugrunde. In jeder Gesellschaft haben die Arbeitsfähigen die Kinder und die Alten zu ernähren, und deren Zahl ändert sich kaum durch Ersparnisse welcher Art auch immer. Ob die Versorgung der Alten als Renten, als Zinsen und Dividenden oder als Sozialhilfe etikettiert und ausgezahlt wird – es bleibt dabei, dass die Erwerbstätigen deren Altersversorgung erarbeiten. Sie produzieren Güter und leisten Dienste dann, wenn sie gebraucht werden. Letztlich gibt es immer nur ein Umlageverfahren von Arbeitenden zu Alten, Kindern und Jugendlichen. Es ist egal, wie groß der Anteil von Aktien und Privatversicherungen an diesem Umlagesystem ist – es sei denn, man wagt es, seine Ersparnisse für das Alter in Ländern mit völlig anderen demografischen Gegebenheiten zu investieren.
Bedrohlich ist weniger die demografische Prognose für Gesamtdeutschland, sondern deren Auseinanderklaffen zwischen West und Ost. Im Osten wird die Zahl der Menschen im Arbeitsalter bis 2050 um fast die Hälfte sinken. Bedrohlich ist das jahrzehntelange Laissez-faire in Hinblick auf den im Hauptschulghetto isolierten Teil der Bevölkerung und auf die Sprach- und Vorschulbildung der Kinder von Immigranten. Und bedrohlicher als alle Demografie ist für den Lebensstandard der Rentner der Lohnverfall in weiten Bereichen des Servicesektors. Schlecht Entlohnte können nun mal nicht den Lebensstandard von Hochlohnrentnern sichern.
Von der Politik bedroht
Forschungs- und Technologieförderung, Arbeitschancen für Ältere und für Frauen mit Kindern, eine nicht nur rhetorische Abarbeitung der Schul- und Vorschuldefizite, vernünftig ausgestattete Universitäten und früherer Berufseinstieg durch Verkürzung von Studienzeiten auf das ringsum Übliche, verlässlichere Arbeitsplätze und Rückkehr zu einer stärkeren sozialen Sicherheit bei Jobverlust – all diese Handlungsfelder sind ergiebiger als trickreiche Rentensenkungsstrategien. Solange die Arbeitslosigkeit nicht bewältigt ist, bleibt die soziale Alterung ohnehin ein Hintergrundproblem. Die Demografie bedroht die Renten kaum, die Politik dagegen sehr wohl. Stefan Welz
Der Autor ist Wirtschaftswissenschaftler und Philosoph in Berlin.
Schreibe einen Kommentar