Eine Taschenlampe braucht man, einen Rucksack oder eine Ikea-Tüte, am besten beides, und Arbeitshandschuhe, auch wegen der Glasscherben. Und genaue Kenntnis, wann welcher Supermarkt seine Container mit Essbarem füllt. Lukas nimmt noch immer seinen Labrador mit. Das bietet einen gewissen Schutz gegen aggressive Aktivbürger, die einen partout der Polizei übergeben wollen. Doch in Berlin macht die sich wegen Diebstahls aus dem Müll kaum noch auf den Weg. Und was da so in den Tonnen landet, das ist oft keineswegs Abfall. Was kurz vorm Mindesthaltbarkeitsdatum ist, fliegt raus, auch alles mit angekratzter oder verformter Verpackung, Obst und Gemüse, das nicht mehr top aussieht oder Druckstellen hat, oder einfach Marken, die ausgelistet werden. Mülltonnen von Bäckereien sind oft prallvoll mit Frischgebackenem – direkt aus dem Ofen. Brote, die etwas viereckig geraten oder zu klein, Brötchen, die aneinandergebacken sind – alles fliegt in den Müll. Und notorisch bestellen Supermärkte weit mehr als sie brauchen, damit kein Kunde vergrätzt wird, wenn aus dem riesigen Sortiment gerade seine Marke mal ausverkauft ist.
Einige Märkte geben das Zeug weg an Volksküchen und Tafeln. Doch was über dem Verfallsdatum ist, darf nicht gespendet werden. Manchenorts toleriert das Personal die Tonnentaucher durch freundliches Ignorieren. Anderswo lassen Chefs eigens Farbe über Früchte und Kekse kippen, werfen Ekelabfall drüber oder sorgen für zerstörte Packungen, so dass Joghurt zwischen Nudeln und Bananen klebt. Einige Supermärkte sind gerichtlich vorgegangen gegen Diebstahl aus ihrem Müll, so vor einigen Jahren in Köln. Und im Dezember hat die Kaufland-Kette in Tübingen zwei Studierende vor den Kadi gezerrt. Die Prozesse wurden zum Happening und die Image-Schäden für die Ketten waren so katastrophal, dass man davon heute die Finger lässt.
Was sind das für Menschen, die in der Dunkelheit aufbrechen zur Müll-Safari? Neben denen, die nur die Armut treibt, sind da die Überzeugungstäter. Sie sehen sich als Aktivisten einer Gegenkultur. Sie wollen die Überfluss- und Wegwerfgesellschaft bloßstellen und boykottieren. Sie starten Kampagnen gegen die Lebensmittelvernichtung der Discounter und sammeln sich in stadtweit vernetzten Container-Kooperativen. Mit dem Austausch geretteter Nahrung will man eine Umsonst-Ökonomie auf den Weg bringen. Doch meist bleibt es beim Tauschen mit Wohngemeinschaften in der Nachbarschaft und das funktioniert gut und reichlich.
Mit der Vision einer Gratis-Ökonomie sind wir bei den „Freeganern“, den Fundamentalisten der Bewegung. Das Wort ist eine Anlehnung an die Veganer, die radikalen Vegetarier. Freeganer stehen unter einer Art Gelübde, alles zu meiden, was Geld kostet, auch beim Wohnen und Reisen. Auch Tauschringe gewinnen an Kraft und Appeal. Sinn und Antrieb solch radikal alternativer Lebensweisen ist wohl weniger der Ekel vorm Geld als das heftige Empfinden, dass man vom meisten, was man uns zum Kauf aufdrängt, nur abgehalten wird von einem wachen und guten Leben. Das aufdringliche Anpreisen zahlloser scheinbar neuer Produkte hat zu einer Vielfalt vorgehaltener Waren geführt, die nicht nur teuer ist und Märkte und Kunden überfordert, sondern schlicht nervt. Wir sind von einem pausenlosen Marketing geradezu umzingelt. Werbung hat sich zu einer Dauerbelästigung ausgewachsen, zu einem Krebsgeschwür der Epoche. Sie missbraucht, zerrüttet und zerstört das Wertvollste, was wir haben – unser Wahrnehmen und unsere Denk- und Konzentrationsfähigkeit. Die Idee, sich auszuklinken aus der anscheinend so wunderbaren Vielfalt dieser Wohlstandsepoche und nicht einmal für Nahrung noch Geld auszugeben, hat deshalb etwas Befreiendes. Und sie denunziert in der Tat die Abartigkeit heutiger Marktzwänge.
Es sind ja nicht nur linke Spinner, die in der Routine der Lebensmittelvermarktung und -vernichtung eine bedrohliche Perversion erkennen. Sie hat ein Ausmaß erreicht, das unmittelbar auf unseren Lebensstandard durchschlägt.
Von denen freilich, die bei uns die Tonnen der Supermärkte durchsuchen, geht es den Meisten nicht um Visionen alternativen Wirtschaftens, sondern schlicht um etwas zu essen. Inzwischen sieht man auch korrekt gekleidete Hausfrauen beim Stöbern im Abfall der Discounter. Die Armut breitet sich aus. Und so findet sich in Berlin kaum noch jemand, der das Containern pauschal zu verurteilen wagt.
Schreibe einen Kommentar