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Welzk Online

Dr. Stefan Welzk - Journalist, Fachbuchautor, Wirtschaftswissenschaftler, Philosoph, Physiker

Die „Alterskatastrophe“ und der Absturz der Renten

Blätter für deutsche und internat. Politik

Juni 14, 2006 Kommentar verfassen

(leicht aktualisiert 28.10.07)

Es gibt sie nicht. Das ist die gute Nachricht. Nun die schlechte Nachricht: Man kann sie künstlich erzeugen. Und genau das geschieht. Die folgenden Thesen werden hier entwickelt und belegt:
– Die demografische Perspektive ist keineswegs extrem bedrohlich.
– Es besteht deshalb weder eine Notwendigkeit für den Großteil der in den letzten fünf Jahren beschlossenen Rentenkürzungen, noch für die angekündigten Reformschritte  der Einführung eines Nachholfaktors  und aus Finanzierungsgründen zu einer Anhebung des Rentenalters.
– Nicht demografische Sachverhalte bedrohen uns mit Altersarmut, sondern politische Reaktionen auf überzogene Globalisierungsängste   – oder eben die Instrumentalisierung dieser Ängste zur Umverteilung des Volkseinkommens.
– Die bislang beschlossenen oder angekündigten  Rentenreformen erzeugen eine Altersarmut, welche in ihrer Dimension  in der Öffentlichkeit bislang nicht wahrgenommen worden ist. Diese politisch einprogrammierte Altersarmut gefährdet  die soziale Stabilität.
– Die Strategie der Förderung einer kapitalgedeckten Privatvorsorge kann die demografische Problematik nicht abmildern. Volkswirtschaftlich ist sie schädlich und sozialpolitisch nicht zu verantworten.
– Wir stehen nicht vor einer Alterskatastrophe, sondern vor einer Ausbildungs-, Arbeitsmarkt-  und Lohnkatastrophe.
– Es existieren hinreichende Handlungsoptionen, um den demografischen Herausforderungen in sozial zumutbarer Weise gerecht zu werden.

DAS GESPENST DER DEMOGRAFIE
Die Menschen leben länger und die Kinderzahl sinkt. Die Bevölkerungspyramide wird zum Pilz, man liest es allenthalben. Nur 1,3 Kinder pro Frauenleben vermeinen die Statistiker noch erwarten zu können. Der „Altersquotient 20/65“ (65jährige und Ältere   je 100 Personen im Alter  von 20  bis 65)   steige von derzeit   32 über 52 im Jahr 2030 auf 60 im Jahr 20500   Was der Sturm der Globalisierung an Wohlstandsresten belässt, zerbröselt offenbar im Zangengriff von hedonistischer Zeugungsverweigerung und sich hochschraubender Lebenserwartung.

Die  vorgeblichen Konsequenzen werden zu immer krasseren Verarmungsvisionen verdichtet. ( Ein jeder Trend führt in die Katastrophe, sofern man ihn nur lange genug in die Zukunft fortschreibt.) Kampagnenhaft bereitet die Politik die Menschen auf das Schicksal einer Art völkischer Verelendung vor und kürzt mit einer Kaskade   kunstvoller „Anpassungen“ die Renten zusammen. Zur Milderung des Elends im Alter soll bekanntlich ein jeder privat vorsorgen.  Niemand hat mittlerweile soviel Angst   vor Armut im Alter wie die Deutschen.  Das zeigt eine im März vorgelegte Umfrage von Emnid   in 6 Ländern,  in Italien, Spanien, Frankreich, England und Polen. Dabei sind die alten Menschen in Deutschland derzeit zufriedener  als die Rentner in den anderen Ländern.  Ihre  Lage ist so gut und zugleich doch die Erwartung so schlecht wie nirgendwo sonst. Nicht nur Altersarmut sitzt als Albtraum im Genick. 80 Prozent aller Deutschen sehen ihre finanzielle Zukunft mit Sorge. Jeder zweite   hat Angst vor Arbeitslosigkeit  und rechnet mit massiven Verschlechterungen  bei der sozialen Absicherung. In England dagegen blickt nur jeder fünfte und in Frankreich nur jeder neunte so schwarz in die Zukunft. Wie erklärt sich diese Angstdiskrepanz?

In keinem anderen wie gerade in der weltführenden Exportnation sind die Menschen  einer solchen Negativkampagne ausgesetzt worden, wie runtergekommen ihre Heimat als Wirtschaftsstandort sei und wie finster ihre Zukunft. Offenkundig   wurde damit eine Atmosphäre von Lähmung und Apathie erzeugt. Bei der einschlägigen Pressekonferenz von Emnid  im März (2006) in Berlin befand  Meinhard Miegel –  der Nostradamus einer deutschen Sozialkatastrophe– die Deutschen seien im Unterschied zu anderen Völkern keine Pessimisten, sondern nur Realisten. Alle soziale Absicherung werde auf das Existenzminimum schrumpfen;  künftig werde Wohlstand   nur noch bedeuten, abends schmerzfrei ins Bett gehen zu können. Auf die Frage, wie man für so etwas Wählermehrheiten   bekommen wolle, entgegnete Meinhard Miegel, das sei gar nicht  mehr erforderlich. Alles sei schon beschlossen, nur die Öffentlichkeit habe das noch nicht gemerkt. Man müsse nur all die Rentensenkungen  wie  Nachhaltigkeitsfaktor und  Nachholfaktor so über einige Zeit wirken lassen. Dann bliebe nur ein Existenzminimum übrig. Das trifft offenbar zu. Die Altersarmut der nur gesetzlich Versicherten   ist bereits gewährleistet.  Welches Ausmaß sie etwa haben wird, darauf wird unten zurückzukommen sein. (Dabei ist anzumerken, das auch das  Sozialhilfeniveau  sich nicht mehr nach einem bestimmten Warenkorb bemisst, sondern indiziert ist, mithin mit den Renten steigen und fallen kann.) Deshalb werden wir jenseits der  beiden angekündigten fundamentalen Kürzungen – Rente 67 und Nachholfaktor – von weiteren Einschnitten   bei der gesetzlichen Rente zumindest aus dieser Koalition heraus nichts  mehr hören. Der Bedarf ist gestillt.

Doch es ist einer genaueren Prüfung Wert, welches Ausmaß an Belastungen uns die demografische Entwicklung   in der Tat aufbürdet und welche Chancen der Bewältigung wir haben. Heute  bereits stehen den 20,1 Millionen Rentnerinnen und Rentnern in Deutschland nur  26,8 Millionen versicherungspflichtig Beschäftigte gegenüber. Das ist ein Verhältnis von 75:100 und es wird, wenngleich nicht mühelos, geschultert. Der für 2030 vorausgesagte so bedrohliche „Altersquotienten 65“ von Menschen über 65 zu denen im Alter von 20 bis 65 liegt bei 52:100.  ( 2050 60:100,  Jugend- und Altenquotient, d.h. bis 20 und ab 65, 2005 64, 2030 80 und 2050 89 zu 100; freilich erreichte dieser Jugend- und Altenquotient bereits 1970 mit 78 nahezu den für 2030 prognostizierten Wert ). Nun stehen bekanntlich nicht alle Menschen im Arbeitsalter  im Beruf. 78 Prozent der Altersstufe 20-65 sind heute „Erwerbspersonen“ (dazu zählt man auch die Arbeitslosen). Die 26,8 Millionen beschäftigten Beitragszahler  tragen dabei jedoch noch über die Arbeitslosenversicherung  Rentenbeiträge  und Lebensunterhalt für etwa  1,3 Millionen Arbeitslosengeld-I-Empfänger (und sie tragen zum Lebensunterhalt von etwa 2,5 Millionen arbeitsfähigen Hartz-IV-Empfängern bei).Damit ergibt sich bereits für heute ein Verhältnis von 80:100  zwischen Rentern (ohne Waisenrentner) plus Arbeitslosengeld-I-Empfängern zu
Beitragszahlern. Unterstellt man vorsichtig für 2030  nur die gleiche Erwerbspersonenquote  20/65  wie heute von 78 Prozent, so folgt für diese Zeit ein Verhältnis von 66:100 von Älteren zu Erwerbspersonen 20/65.  Das heute bestehende Verhältnis von Empfängern von Altersrentnern und Arbeitslosengeld-I-Empfängern zu sozialversicherungspflichtig beschäftigten Beitragszahlern von 80:100 liegt damit über dem für 2030 vorausgesagten  und als dramatisch eingestuften Niveau von Älteren zu Erwerbspersonen 20-65.

Angenommen ist  dabei, dass die Erwerbsfähigen dann auch fast alle Arbeit  haben, die Arbeitslosigkeit mithin dezimiert wird.   Das ist sinnvoll, weil das zentrale Argument aller Bedrohungsszenarien zur „Alterskatastrophe“ ein Mangel an Arbeitskräften ist. Erkennbar ist der demographisch bedingte Engpass an Menschen im Erwerbsalter ein bloßes Hintergrundproblem, solange diejenigen in Lohn und Brot noch für Millionen Menschen in offener   oder verdeckter  Arbeitslosigkeit aufkommen, anstatt dass auch diese Menschen Rentenbeiträge erarbeiten können.
Mitunter wird eingewendet, eine bloße Schrumpfung des Volkes verändere nicht die arbeitsmarktrelevanten Strukturen. Deshalb sei die Annahme, eine Minderung der Erwerbspersonenzahl um x Prozent werde eine Arbeitslosigkeit von etwa x Prozent verschwinden lassen, zu schlicht gedacht.  Doch die deutsche Wirtschaft  ist so stark exportorientiert wie keine andere große Nation des Westens. Nahezu 40 Prozent des BIP werden über den Weltmarkt erwirtschaftet Weltmarktanteile.  Die Annahme; dass Exportmärkte verloren gehen, weil in Deutschland das Erwerbspersonenpotential schrumpft, ist abwegig, solange dieses Potential nicht ausgeschöpft ist. Zum zweiten erzwingt die wachsende Pflegebedürftigkeit neue Arbeitsplätze zu welchen Bedingungen auch immer. Der „Altersquotient 20/65“ von 0,52 wird als Menetekel der Wohlstandsgesellschaft auf die Bildschirme projiziert, als Ergebnis einer bis auf Kommastellen sinnvollen Kalkulation. Das Rentenszenario der Bundesregierung   im Kontext der Riester-Reform 2001   vermutet für 2030 1 Million Arbeitslose, der letzte Prognos Deutschland Report  2,1 Millionen oder 5,2      Prozent. Unterstellt man für 2030 eine Arbeitslosigkeit von 5 Prozent bei den Erwerbspersonen, so folgt ein Verhältnis von Älteren zu Erwerbstätigen   von etwa 68:100, wobei diese Arbeitslosen dann freilich auch 2030 als zu Alimentierende noch einzubeziehen wären. Auch damit ist ein eher milderes Belastungsverhältnis von aktiven Beitragszahler zu Rentnern absehbar als heute.
Gewiss sind  nicht alle der Arbeitslosen für Jobs der Zukunft  qualifiziert und geeignet. Doch wir haben Jahrzehnte Zeit, diesen „mismatch“ auf ein Minimum zu drücken.

POPANZ WELTMARKT ALS RENTENKILLER

Mit den bisher in Gesetze gegossenen oder politisch beschlossenen Reformen soll der Beitragssatz zur Rentenversicherung dauerhaft unter 22 Prozent gehalten werden. Das war bereits die entscheidende Zielsetzung der Riester-Reform.   Doch warum gilt ein Beitragssatz von 26 Prozent als untragbar, ein Satz von   22 Prozent plus  4 Prozent Privatvorsorge dagegen nicht?   Zur Privatvorsorge trägt der Arbeitgeber nichts bei – das allein ist der Kern der gesamten Kampagne. Dass die große Mehrheit diese  4 Prozent  zusätzlichen Sparens nicht aufbringt, nimmt man sehr verzögert erstaunt zur Kenntnis. Doch wie eigentlich ist   diese Fixierung der Rentenversicherungsbeiträge auf maximal 22 Prozent zu erklären?  Ende der 80er Jahre war für 2030  ein Beitragssatz von über 40 Prozent prognostiziert worden – eine in der Tat kaum tragbare Belastung. In einer „großen Reform“ wurden die Rentenansprüche damals bereits drastisch beschnitten. Alle Parteien waren 1989 zufrieden, den Beitragssatz bis 2030 bei 28 Prozent halten zu können. 1997 jedoch durften es nur noch 24 Prozent sein, 1999 nur  noch 23 Prozent. Inzwischen sind es bis 2030 22 Prozent und bis 2019 19,9 Prozent. Die demografischen Fakten haben sich in diesen Jahren keineswegs fundamental verändert; die Lebenserwartung wurde etwas nach oben korrigiert. Doch nicht die zu tragenden Belastungen sind ja in den Prognosen gestiegen,  sondern es sind die Kriterien gesenkt worden, welche Beitragssätze den Arbeitgebern zugemutet werden sollen. Mitnichten wachsende Einsicht in eine auf uns zu rollende  Alterskatastrophe steht hinter den Rentenkürzungen, sondern die politische Entscheidung, Arbeitgeber durch   Absenkung von Lohnnebenkosten zu begünstigen und damit Renditen zu  steigern. Der Druck auf die Lohnnebenkosten   wird mit Globalisierung   und internationaler Konkurrenz begründet.

Die deutsche Wirtschaft ächze unter den weltweit höchsten Personalzusatzkosten und das koste Arbeitsplätze, so das gängige Argument. Doch sind die deutschen Personalzusatzkosten wirklich außer Proportion? Weil genau diese These die Triebkraft hinter der gesamten Reformdynamik im Rentenbereich ist, sei sie hier nicht ungeprüft akzeptiert.  Nach  Erhebungen des Instituts der deutschen Wirtschaft für 2006   liegt ihr Anteil an den Kosten einer Arbeitsstunde im Verarbeitenden Gewerbe  in Westdeutschland bei 42,9  %  und damit niedriger als in Belgien (47,6 %), Österreich (46,8 %), Frankreich (50,7 %) , Italien (46,1 %), Spanien (46,5 %), Schweden (43,5 %), Ungarn (46,5 %)  und Tschechien (44,0 %) und nur wenig höher als in den Niederlanden (42,6 %), Finnland (41,5%) und der Slowakei (42,5 %)   Ihr Anteil an den Arbeitskosten bewegt sich damit in Westdeutschland im Rahmen dessen, was in vergleichbaren Staaten üblich ist. Für Ostdeutschland vermeldet das IdW einen Anteil der Personalzusatzkosten an den Arbeitskosten von  nur 39,5 %. Deutlich niedriger als in Westdeutschland  liegt dieser Anteil in Nationen, die ihr Sozialsystem zu größeren Anteilen aus Steuermitteln statt aus Beiträgen   finanzieren  wie in Dänemark, Irland oder   in Großbritannien oder die über kein vergleichbares Sozialsystem verfügen wie die USA. Weniger das Niveau der sozialen Absicherung, sondern die Methode seiner Finanzierung   erklärt mithin die nationalen Unterschieden  in diesen Ziffern.  Freilich wird in Großbritannien seit der Thatcher-Regierung ein sehr viel krasseres Ausmaß an Verelendung hingenommen als auf dem Kontinent.

Bewegen sich die Lohnnebenkosten   in Westdeutschland   auch  keineswegs außer Proportion zu den Löhnen,  so sind sie dennoch die höchsten der Welt.  Das ist eine Konsequenz des deutschen Lohnniveaus, das nominal  höher liegt als in anderen Nationen mit einer ähnlichen Finanzierung des Sozialsystems. Dieses  Lohnniveau verdankt sich nicht gewerkschaftlicher Maßlosigkeit, sondern den Marktkräften. In der alten Bundessrepublik sind die Tarifabschlüsse meist bescheidener ausgefallen als bei den Handelspartnern in Westeuropa. Die Folge waren wachsende deutsche Handelsüberschüsse  und daraufhin wiederholte Aufwertungen   oder ein Aufwärtsfloaten der Mark. Damit wurde die Lohnbescheidung durch die internationalen Marktkräfte wieder und wieder kompensiert.   Beim Übergang zum Euro   hat man mit den Umrechnungskursen  weithin  Marktstärken und Kaufkraft der Währungen Rechnung zu tragen versucht.  Insofern sind die deutschen Löhne und mit ihnen die Lohnnebenkosten von den Kräfte des Weltmarktes  und der deutschen Konkurrenzfähigkeit bestimmt. Seit der Fixierung in den Euro haben sich die deutschen Löhne nicht nur sehr viel bescheidener entwickelt als in der Eurozone, sondern auch als in allen anderen westlichen Staaten.  Real sind sie gefallen. Nicht zuletzt deshalb  verzeichnet Deutschland derzeit erneut den höchsten Handelsüberschuss der Weltwirtschaftsgeschichte.

Fazit: Aus den Zwängen der Globalisierung lässt sich die Notwendigkeit, die Lohnnebenkosten zu drücken, nicht begründen. Auch aus demografischen Sachverhalten  ergibt sich kein Zwang zu   derart einschneidenden Kürzungen. Damit entfällt die  entscheidende Rechtfertigung für die in den letzten Jahren beschlossenen Absenkungen der  Rentenansprüche. Demografische Argumente werden zweckentfremdet als Alibi zur Legitimierung von aus anderen Motiven erfolgten Umverteilungen  des Volkeinkommens.

DER ABSTURZ
Die einzelnen Reformschritte sind  größernteils in den Focus der Medien geraten, doch das wahrscheinliche Ausmaß des gesamten politisch bereits einprogrammierten Rentenverfalls ist kaum wahrgenommen. Witwenrenten gekürzt, Anerkennung der Hochschuljahre ausgeschlichen – soweit traf  es zunächst  ausgewählte und  teils privilegierte Gruppen. Berufsunfähigkeitsrenten abgeschafft, Beiträge für Arbeitslose und damit deren Rentenansprüche zusammengestrichen, dann den vollen Beitrag der Pflegeversicherung den Renten aufgelastet. Schließlich für Neuzugänge ab 1. April 2004 die Rentenzahlung aufs Monatsende verlegt – für die Rentner de facto ein Verlust; für Erben federt es den Wegfall des Sterbegeldes ab. Dazu die diversen Nullrunden.

Doch nun zu den langfristig sich kulminierenden Einschnitten: Zum ersten die Absenkungen im Zuge der Riester-Reform – eben die Einfügung der „Riester-Treppe“ in die Rentenformel. Sie   bedingt in acht Schritten zu 0,6 % eine Rentenkürzung um 4,8 % auch für diejenigen, die sich nicht auf ein  staatlich bezuschusstes Zusatzsparen für eine  Riester-Rente einlassen wollen oder können. Darüber hinaus sinken die Renten, wenn die Beiträge steigen. Zwei Prozent   Anstieg des Beitragssatzes  z.B. senkt die  Renten um 2,5 Prozent. Dann die Einführung des „Nachhaltigkeitsfaktors“ in die Rentenformel. Im Unterschied zu dem von Norbert Blüm  1997/98    eingeführten und von Rot-Grün ungehend wieder abgeschafften Demografie-Faktor  werden die Renten nicht nur demografischen, sondern auch den Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt angepasst. Steigt die Arbeitslosigkeit, sinken die Renten. Zumindest dieser Korrektur kann eine gewisse Legitimität  zuerkannt werden.  Die Absenkungen durch den „Nachhaltigkeitsfaktor“ werden bis 2020 mit 0,2 % und bis 2030 mit 0,3 % pro Jahr auf die Renten durchschlagen. Damit wird das „Netto-Rentenniveau vor Steuern“ von derzeit 52,5 auf 46% in  2020 und auf 43 % bis 2030 absinken.   Bei Unterschreiten dieses 43%-Niveaus ist die Regierung verpflichtet, dem Gesetzgeber geeignete Maßnahmen vorzuschlagen. Das Gleiche gilt freilich auch bei einem Anstieg der Beiträge bis 2030 auf über 22 Prozent. Bliebe noch als Ausweg aus diesem Dilemma  ein Ausweichen auf größere Zuschüsse aus dem Bundeshaushalt, doch das soll gleichfalls tabu sein. „Denn eine deutliche Aufstockung des Bundeszuschusses könnte die Beitragsbezogenheit der Renten und damit die Eigentumsgarantie der beitragserworbenen Ansprüche in Frage stellen.“  Diese Sichtweise ist insofern verwunderlich, weil die z.B. für  2009 prognostizierte Eckrente seit 1995 reformbedingt um bereits 22 %  oder 330 €   abgesunken und die Fiktion einer Eigentumsgarantie   von Rentenansprüchen etwas fragwürdig geworden ist.

Auch das Verhältnis von Renten zu Nettolöhnen dürfte im etwa gleichen Maße sinken. Es soll sich vor einigen Jahren für den Eckrentner noch bei 70 % bewegt haben. Freilich ist der Eckrentner eine schwindende Spezies. Vollständige Erwerbsbiographien werden selten. Schon heute kommen nur 7,5 % der Frauen und 47,1% der Männer auf  45 Beitrags- und Berücksichtigungsjahre; im Durchschnitt erreichen Frauen   28 Erwerbsjahre.  Zugleich sind die Meisten im Leben irgendwie vorangekommen und auch auf der Gehaltsleiter hochgestiegen. Die gesetzliche Rente errechnet sich bekanntlich nun nicht nach dem letzten Gehalt, sondern nach dem Durchschnittseinkommen über das gesamte Berufsleben. Deshalb lagen die Nettorenten schon vor diesen Reformen  nicht bei 70 %, sondern eher nahe 60 % des letzten Nettolohnes.  Sie dürften auf unter 50 % sinken.  Nach Berechnungen des DGB landet ein Durchschnittsverdiener mit 30 Beitragsjahren unter der Sozialhilfegrenze.

Nunmehr tritt der Übergang   zu einem Renteneintrittsalter von 67 hinzu. Zumindest auf absehbare Zeit bedeutet er für die Meisten und vor allem für die nicht hoch qualifizierten eine nackte Rentensenkung. Nur 24 % der Menschen zwischen 60 und 65 sind noch in Arbeit und dabei mindestens vier mal mehr Hochqualifizierte als andere. Ältere Geringqualifizierte, die jetzt bereits in diesem Alter fast alle außen vor sind, werden auch nicht infolge einer Heraufsetzung des Rentenalters  wieder eingestellt werden.   So verlangt der Sozialbeirat in seinem Gutachten zum Rentenversicherungsbericht 2005 diese Heraufsetzung des Rentenalters mit Instrumenten der Arbeitsmarktpolitik zu flankieren. „Nur so kann verhindert werden, dass die Erhöhung des Renteneintrittsalters zu einer versteckten Rentenkürzung führt.“  Die Bundesregierung hat inzwischen ein Programm „50 plus“ angekündigt. Noch niemals haben derartige Programme   messbar mehr als Mitnehmereffekte   gezeitigt; nur in umgekehrter Richtung, bei subventionierter Frühverrentung, stößt man auf starke Resonanz.

Nicht nur aus diesem Grund   trifft die Heraufsetzung des Rentenalters mit besonderer Härte Durchschnittsverdiener und  Einkommensschwache. Infolge der in Deutschland sehr unterschiedlichen Lebenserwartung der Einkommenskohorten von bis zu neun Jahren sind die Rentenbezugszeiten für Einkommensschwache nur etwa halb so lang wie für die obere Einkommenskohorte. Damit bekommt jemand mit einer  Lebenserwartung von 74 kaum die Hälfte seiner Beiträge als Rente zurück. Er alimentiert mit der anderen Hälfte  die Renten der – meist einkommensstarken – Langlebigen. Wäre die Lebenserwartung der unteren Einkommenskohorten ebenso  hoch wie in den oberen, so wäre schon jetzt ein Beitragssatz von 22 % vonnöten. Dieses Missverhältnis   wird mit der Anhebung des Rentenalters um zwei Jahre noch einmal verstärkt. Jemand mit einer Lebenserwartung von 81 verliert ein Achtel,  jemand  mit einer Lebenserwartung von 73 ein Viertel seiner Ansprüche.

Die größte Brisanz birgt wohl der in seiner Wirkung bislang wenig durchschaute „Nachholfaktor“, auf den man sich im Koalitionsvertrag geeinigt hat, und das aufgrund seines Zusammenspiels mit den 400 €- und sonstigen Minijobs:
„Die  aktuelle schwache Lohn- und Gehaltsentwicklung führt  dazu, dass die in der Rentenanpassungsformel enthaltenen Dämpfungsfaktoren … nicht vollständig wirken können. Zur Einhaltung der genannten Beitragssatzsicherungsziele ist es deshalb notwendig, nicht realisierte Dämpfungen von Rentenanpassungen nachzuholen.“

Absolute Priorität hat mithin die Beitragssatzstabilität. Derzeit dürfen nach Gesetzeslage die Eck- oder Standardrenten nominal nicht aufgrund eines Anstieges des Beitragssatzes und des Nachholfaktors sinken, wenn sich daraus gemäß der Rentenformel in Sozialgesetzbuch VI §68   eine Rentensenkung errechnet.  Doch diese nicht erfolgten Rentensenkungen   sollen künftig nachgeholt werden. Sobald aufgrund nominal steigender Löhne die Rentenformel wieder steigende Renten vorschreibt, bleiben die Renten eingefroren, bis die in den Vorjahren nicht exekutierten Rentensenkungen   abgearbeitet sind.

Das erscheint auf den ersten Blick als fair, gerecht und harmlos. Warum sollen die Renten nicht sinken, wenn die Löhne fallen, aus deren Beiträgen sie gespeist werden? Nicht zu rechtfertigende Rentensenkungen ergeben sich aus der folgenden rechtlichen Mechanik: Laut Rentenformel bestimmt sich die jährliche Rentenanpassung, abgesehen von den anderen genannten Faktoren, aus dem Verhältnis der „Bruttolohn- und Gehaltssumme je durchschnittlich beschäftigten Arbeitnehmer im vergangenen Kalenderjahr“ zu der des Vorjahres“.  Die Crux liegt in dem unscheinbaren Wort „durchschnittlich“.  Steigt oder fällt dieser Quotient um x Prozent, so die Rente und jeder bislang erworbene Rentenanspruch im Folgejahr desgleichen.  In die Berechnung dieses Durchschnittslohnes gehen jedoch alle sozialversicherungspflichtig Beschäftigten ein, und zwar mit dem gleichen statistischen Gewicht wie Vollzeitkräfte, egal, wie viel sie arbeiten – auch die Teilzeitkräfte und damit auch die Mini-Jobber mit 400 € im Monat. Ihr Einkommen liegt kaum bei  einem Sechstel  des Durchschnittslohns. Mit jeder Million neuer Minijobber sinkt der Durchschnittslohn und damit jedermanns Rente um etwa 3 Prozent und die auszukehrende Rentensumme um etwa  6 Mrd. € pro Jahr. Dieser einschneidende und bislang öffentlich kaum wahrgenommene Rentensenkungseffekt   dürfte das Hauptmotiv dafür gewesen sein, als man 1999 die Minijobs in einer mühsamen und streitbeladenen politischen  Prozedur   von der Steuerpflicht befreit und dafür in die Sozialversicherungen einbezogen hat.

Es spricht jedem Rechtsverständnis Hohn,  dass jemandes Rente, der sein Leben lang  Vollzeit gearbeitet hat,  jeweils um etwa drei Prozent sinkt, wenn und nur weil  eine Million Minijobber und immerhin doch wertschöpfend in den Arbeitsmarkt eintreten, für die Beiträge gezahlt werden. Dieser rechtliche und logische Widerspruch könnte sehr wohl dem Bundesverfassungsgericht vorgelegt werden. Von allen rentensenkenden Reformschritten ist dieser absehbar wohl der einschneidenste mit dem auf lange Sicht größten Einspareffekt. Dazu freilich braucht es den im Koalitionsvertrag vereinbarten Nachholfaktor  im Zusammenspiel eben mit der Berechnung der Rentenentwicklung für Vollzeitkräfte nicht nach der Entwicklung des Durchschnittslohns von vollzeitäquivalenten Arbeitnehmern, sondern von durchschnittlich Beschäftigten. Erst dieser Nachholfaktor sichert, dass der Rentensenkungseffekt der Minijobs nicht mehr durch Einschränkungen beim Absenken der Standardrente teilblockiert wird, sondern über die Folgejahre voll zur Wirkung kommt. Auch alle sonstigen Teilzeitjobs drücken aufgrund ihres Teilzeitcharakters  nach der Rentenformel die Renten aller Vollzeitbeschäftigten. Der  Trend zu Teilzeitarbeit verstärkt sich und entsprechend fallen die pro Beitrags-Euro  erworbenen Rentenansprüche. (Ein jeder Teilzeitbeschäftigter bekommt selbstredend nur anteilige Rentenansprüche gemäß seiner Teilzeit.)

Nach und nach werden auf  diese  Weise die Renten von der Inflation ausgezehrt. Dieser Effekt ist in den genannten Vorgaben und Prognosen  zur Entwicklung des Rentenniveaus   nicht berücksichtigt. Denn dieses bis 2030 auf 43 % absinkende  Rentenniveau bezieht sich ja auf das Verhältnis zu einem Durchschnittslohn, in dessen Berechnung die Teilzeit- und Minijobs bereits enthalten sind. Franz Müntefering wird darauf zu achten haben, nicht als der „Noske des deutschen Sozialstaates“ in die Geschichte einzugehen.  – Selbst die 1-Euro-Jobs der Hartz IV-Empfänger sollten in die Berechnung des rentenentscheidenden Durchschnittslohnes eingehen. Inzwischen freilich ist man übereingekommen, auf die Einbeziehung der 1-Euro-Jobs bei der Berechnung des Durchschnittslohns zu verzichten, „weil sie die Rentenberechnung verzerren“.  Die eingangs zitierten Verelendungsprognosen von Meinhard Miegel sind offenkundig nicht ohne Berechtigung – dies  freilich nicht aufgrund von demografischen oder weltwirtschaftlichen Zwängen, sondern aufgrund von keineswegs alternativenlosen politischen Entscheidungen.

Zugleich werden die Renten durch die „Tertiärisierung“ gedrückt. Recht gut bezahlte Industriejobs  verschwinden.  Große Wachstumsbereiche im Servicesektor wie Handel und Gastronomie entlohnen  dürftig.  Meist kleine Firmen, scharfe Konkurrenz, prekäre Arbeitsverhältnisse, geringe Qualifikation,  massives Überangebot an Arbeitskräften,   schwache Gewerkschaften, Schwarzarbeit, Studenten, Hausfrauen und sonstige Nebenjobber – das gewährleistet Bescheidenheit. Im Zuge dieses  Strukturwandels  kann der Durchschnittslohn in Deutschland selbst dann fallen, wenn   jedermanns Lohn steigt.  So sind 1995-2005 inflationsbereinigt die Bruttolöhne  im Produzierenden Gewerbe um 8,7 % und  die Tariflöhne im Lande um 4,7 % gestiegen,  doch die Bruttolöhne pro Arbeitnehmer   um real 4,1 % gefallen.  Und mit dem Durchschnittslohn sinkt die Eck- oder Standardrente. Das ist hart aber fair, weil aus den Beiträgen von Niedriglöhnern  nun mal keine Hochlohnrentner bezahlt werden können.

Ergänzt werden die gesetzlichen Renten bekanntlich durch Betriebsrenten, der „zweiten Säule“ unseres Rentensystems. 15,7 Millionen Menschen  sparen derzeit eine Betriebsrente an. Freilich konzentriert sich  deren Segen auf Männer, auf große Unternehmen  und dort auf die gehobenen  Einkommen.  In der Privatwirtschaft bekommen Männer im Durchschnitt eine Betriebsrente von 446 €, Frauen von  184 €. In Unternehmen mit bis 99 Beschäftigten liegt die Betriebsrente   bei 206 €, in  Unternehmen ab 10 000 Beschäftigten bei 621 €. Hochqualifizierte und leitende Angestellt erhalten m Mittel 1210 €, Fachkräfte 175-445 €, Hilfskräfte 134 €.  Mithin wird hier mit massiver Förderung durch den Fiskus  eine Arbeitnehmer-Aristokratie begünstigt.

DER SOZIALE SKANDAL KAPITALGEDECKTER PRIVATVORSORGE

Der Verfall der gesetzlichen Renten soll durch die privat angesparten staatlich geförderten Renten ausgeglichen werden. Auf lange Sicht wird erwartet, dass sie die Hälfte des Niveaus der gesetzlichen Renten erreichen.  Wie heißt es doch in der Begründung zum Altersvermögensaufbaugesetz: „Mit dem breiten   Aufbau zusätzlicher kapitalgedeckter Altersvorsorge wird die Alterssicherung auf eine umfassende finanzielle Grundlage gestellt, die es ermöglicht, die Sicherung des im Erwerbsleben erreichten Lebensstandards im Alter zu gewährleisten.“ Befassen wir uns deshalb nunmehr mit deren Segnungen und Widrigkeiten – zum ersten mit den verteilungspolitischen Konsequenzen und zum zweiten damit, ob oder inwieweit das Projekt einer allgemeinen kapitalgedeckten Privatvorsorge   überhaupt zur Milderung der demografischen Probleme  einer alternden Bevölkerung beitragen kann. Ab 2009 sind es schließlich 4 % vom Bruttolohn, die eigenverantwortlich  fürs  Alter zusätzlich auf die hohe Kante gelegt werden sollen. Diese privat gesparten vier Prozent werden steuer- und abgabenfrei gestellt. Die untersten Einkommen  bekommen, falls sie in der Tat so viel sparen, zumindest 154 € im Jahr hinzu. Der Staat trägt auf diese Weise mit etwa 10  Milliarden   im Jahr zur privaten Altersvorsorge bei. Doch auch die Arbeitgeber müssen auf diesen  Lohnanteil keinerlei Sozialbeiträge mehr zahlen. Das bringt der Unternehmerseite rund 7 Milliarden Euro pro Jahr  an eingesparten Beiträgen und kostet die Sozialversicherungen die gleiche Summe pro Jahr.

Freilich führt die kapitalgedeckte Privatvorsorge zu einer Einkommensverteilung  im Alter, die mit dem Wertekosmos unserer Gesellschaft   nicht  verträglich ist. Die gesetzliche Rente pro Monat ist in etwa dem Lebenseinkommen  proportional, für welches Beiträge entrichtet ist. Ganz anders sieht es aus mit den Alterseinkünften aus privater Ersparnis. Die Sparquote – jener Anteil vom Einkommen, den man auf die hohe Kante legt – steigt meist stark mit dem Einkommen.   Bei einem Arbeiter mit 1700 € im Monat sind das   vielleicht 2 %,   bei einem Diplomingenieur mit  5100 € 12 %.  Die Ersparnis ist das Produkt aus Einkommen  und Sparquote.  Der Arbeiter würde demnach 2 % von  1700 € gleich 34  € sparen, der Ingenieur   12 % von 5100 € gleich 612 €. Das Einkommen beider unterscheidet sich um einen Faktor 3, die Ersparnis um einen Faktor 18. Im Ergebnis klaffen die Alterseinkommen desto krasser auseinander, je stärker der Anteil der privaten Kapitalvorsorge sich entwickelt.

Dem sollte der Staat abmildernd entgegenwirken, wenn er die Altersversorgung der persönlichen Sparfähigkeit überantwortet. Doch es geschieht das Gegenteil. Die Beiträge zur privaten Altersvorsorge  können von der Steuer abgesetzt werden und das bis zur Beitragsbemessungsgrenze. Auch für den Ehepartner   dürfen noch einmal vier Prozent steuer- und abgabenfrei gespart werden, wenn dieser nicht selbst arbeitet. Damit   bekommt ab dem Jahr 2008 jemand mit einem Monatslohn von 1500 € zu seiner privaten Altersvorsorge 154 € im Jahr vom Staat dazu, mithin 0,8 % seines Einkommens, ein Single an der Beitragsbemessungsgrenze  dagegen etwa 1020 € oder 1,7 % seines Einkommens  und ein verheirateter Alleinverdiener, der 8 % Riester-spart, etwa 1550 € oder 2,5 % seines Einkommens  (Grenzsteuersatz von 32   % angenommen).  Er erhält damit vom Staat eine etwa zehnmal so starke Förderung wie ein Geringverdiener mit  1500 € im Monat.

Offensichtlich werden die Riester-Renten von der Mehrheit nicht angenommen. Ihnen verbleibt damit nur die Senkung der gesetzlichen Renten im Zuge der Riester-Reform. Bei der Einführung der Riester-Renten urteilte Bert Rürup, heute Vorsitzender des Rates der fünf  Wirtschaftsweisen, die Förderung einer freiwilligen privaten Altersvorsorge werde nicht zu  einer   nennenswerten Erhöhung der Sparquote führen: „Es ist ein Mythos,  dass durch Einführung einer ergänzenden kapitalgedeckten Alterssicherung  – insbesondere in einem Land wie Deutschland – die gesamtwirtschaftlichen Ersparnisse   erhöht würden.“    Vor allem bei den höheren Einkommen dürfte es zu Portfolio-Umschichtungen kommen. Die Anleger würden verstärkt in geförderte Altersvorsorgeprodukte investieren und dafür andere Sparformen abbauen. Das zeige die Erfahrung mit anderen Formen der Sparförderung. Diese Prognose scheint sich zu bewahrheiten. 3,9 Millionen Riester-Verträge gab es Ende 2003. Dann kollabierten die Abschlusszahlen. 2004 kamen noch 265 000 hinzu. 2005 waren es 1,4  Millionen. Diesen Anstieg erklärt   der Sozialbeirat  zum Teil  mit einem Vorzieheffekt wegen der Einführung   von Uni-Sex-Tarifen ab 2006, die höhere Beiträge für Männer mit sich bringen.    Inzwischen ist Bert Rürup  freilich zu einem dezidierten Befürworter einer kapitalgedeckten Privatvorsorge geworden.

Nicht einmal jeder Fünfte hat sich bis heute (Frühjahr 2006) bereitgefunden, eine geförderte  Riester-Rente anzusparen. Auch die  Unsicherheit, mit der Anlagen an Börsen und auf Kapitalmärkten behaftet sind, lässt viele  zögern. Immerhin war der deutsche Aktienindex 1999-2002 um 60 % gefallen und der Wert fast aller Aktien des Neuen Marktes praktisch vernichtet worden. Von 112000 Pensionskassen in den USA überlebten 32 000. Auch deutsche berufsständige Rentenversicherungen haben danach ihre Zusagen drastisch reduziert. Von 86 Lebensversicherungen in Deutschland haben den Stress-Test der Bundessanstalt für Finanzdienstleistungen   nur 36 bestanden. Und klammheimlich ist der Bund mit Milliarden eingesprungen, um den Kollaps einiger Versicherungen zu   verhindern.  91 % lehnen ein Obligatorium zum Abschluss einer Riester-Rente ab.   Doch ungeachtet dessen wird  eine solche  Pflicht zur kapitalgedeckten Altersvorsorge mit zunehmender Eindringlichkeit aus dem politischen Topmanagement der Koalition heraus gefordert.

Für Wachstum und Beschäftigung wäre das Hochtreiben einer  kapitalgedeckten Altersvorsorge  oder gar eines Zwangssparens eine kaum verkraftbare Belastung. Je mehr gespart wird, desto geringer die aktuelle Nachfrage. Und inzwischen unstrittig ist die schwache Nachfrage im Inland die Hauptursache für die deutsche Wachstumsschwäche und damit auch für die Persistenz der Arbeitslosigkeit. Sie erklärt sich zum Teil aus dem Verfall der Reallöhne, zum Teil auch aus der Angst vor Arbeitslosigkeit.

PRIVATVORSORGE – EIN WIKRUNGSLOSES NULLSUMMENSPIEL

Der sozialpolitische Skandal krass auseinanderklaffender Alterseinkommen und die lähmende Wirkung auf die Volkswirtschaft – beides ist noch nicht das   gravierendste Manko   eines kollektiven Sparens  fürs Alter. Entscheidend ist dessen Wirkungslosigkeit zur Abmilderung des demografischen Problems einer alternden Gesellschaft. Diesem Konzept liegt ein  fundamentaler Denkfehler zugrunde. Das pro Jahr in einem Land   erzeugte Einkommen wird auf Löhne,   Gewinne und Staat verteilt, der damit für Renten, Kindergeld, Polizei, Armenhilfe, Straßen,  Schulen usw. aufkommt.  Daran kann sich nichts ändern, völlig unabhängig davon, wie das Rentensystem gezimmert ist und die Altersversorgung bezahlt wird. Jede Gesellschaft hat zu jedem Zeitpunkt aus der Arbeit der Arbeitsfähigen die Kinder und die Alten zu ernähren und deren Zahl  ändern sich kaum durch einen Wechsel des Sozialversicherungssystems noch durch Ersparnisse welcher Art auch immer. Ob die Versorgung der alten Menschen als Renten, als Zinsen, als Dividenden oder als Sozialhilfe etikettiert und ausgezahlt wird – es bleibt dabei, dass die Arbeitenden deren Altersversorgung erarbeiten. Sie schaffen die Güter und Dienstleistungen dann, wenn sie gebraucht werden. Pflege- und Dienstleistungen kann man nicht speichern und auch Lebensmittel kaum. Wird eine größere Summe des Alterseinkommens als Dividenden ausgereicht, so ist vermutlich der Gewinnanteil am Volkseinkommen höher, folglich   der Lohnanteil niedriger, folglich das Beitragsaufkommen der Rentenversicherung niedriger und folglich   der als Renten  im Unlageverfahren ausgezahlte Teil desgleichen. Letztlich gibt es immer nur ein Umlageverfahren von den Arbeitenden zu den Alten und den Kindern, egal,  wie groß zu irgendeinem Zeitpunkt der Anteil von Aktienmärkten und Versicherungen   an diesem Umlagesystem ist. Eine Bindung der Renten an die Löhne ist jedoch verlässlicher als  deren Vermittlung über Kapitalmärkte.  Privatversicherungen verbrauchen   im Übrigen 15 bis 25 Prozent der Einnahmen für Verwaltung und Provisionen. Die gesetzliche Rentenversicherung   wendet dafür nur 1,5 Prozent der Einnahmen auf  und sie muss zudem keine Aktionäre befriedigen.

Schenkt man jedermann 100 000 € an Geldpapier, so ist niemand reicher, nur die Preise steigen. Weder wächst deshalb die Zahl der Arbeitsfähigen noch der Maschinenpark. Doch ähnlich  ist die Wirkung, wenn die Sparer einer Altersstufe ihre Ersparnisse auflösen. Wer bis zum Alter mehr angespart hat als der Durchschnitt, der wird im Alter mehr haben als der Durchschnitt. Doch insgesamt bleibt es ein Nullsummenspiel. Als volkswirtschaftliche Lösungsstrategie für das Problem der Versorgung einer alternden Bevölkerung ist eine von fast allen betriebene kapitalgedeckte Altersvorsorge schlicht unsinnig. Ein Verhalten, das für den Einzelnen   sinnvoll ist, kann für die Gesamtheit oder die Volkswirtschaft   eben sinnlos oder schädlich sein.  Denn im Gegensatz zum Geldvermögen der Einzelnen ist das Geldvermögen einer Volkswirtschaft immer gleich Null. Das ist eine rein buchhalterische Identität und eine der logischen Grundlagen  der Ökonomie. Auf diesen elementaren wirtschaftswissenschaftlichen Sachverhalt wurde in den 50er Jahren von dem Finanzwissenschaftler Gerhard Mackenroth, der bei der Einführung des intelligenten Umlageverfahrens   der Rentenversicherungen  Pate stand und  Adenauer von dessen Rationalität überzeugt hat, dabei ausdrücklich Bezug genommen.

Anders  wäre die Wirkung zusätzlicher Ersparnisbildung, wenn die Wirtschaft unter Kapitalmangel litte, und aus diesem Grund  zu wenig  investiert würde. Dann würden mit dem Konsumverzicht der Sparer produktive Investitionen   finanzierbar und Arbeitskräfte dorthin umgeleitet. Doch nicht nur die deutsche Wirtschaft ist so gut abgepolstert wie selten zuvor. „Sie schwimmen im Geld“, schreibt der Internationale Währungsfond in seinem jüngsten Wirtschaftsausblick über die Unternehmen. 2003 und 2004  hätten die Unternehmen der sieben größten Industriestaaten  Ersparnisse von 1300 Milliarden Dollar aufgehäuft, dieses Geld jedoch bislang zu großen Teilen nicht in Produktions-, sondern in Finanzanlagen investiert. Das bringe weder  Wachstum noch Jobs, so der Währungsfond.

Im Vorfeld der   Riester-Reform hatte das Deutsche Institut für Wirtschaftforschung gewarnt: „Die Folgen einer alternden Bevölkerung  können nicht durch den Wechsel des Finanzierungsverfahrens gelöst werden.“
Diese Folgen fallen freilich, wie oben verdeutlicht, weniger bedrohlich aus als in den gängigen Szenarien dargestellt, deren geradezu hysterischer Charakter wohlmotiviert sein   dürfte. „Je madiger die Rentenversicherung gemacht wird, desto mehr klingelt das Geld  in den Kassen der Privatversicherung. Es  ist nicht immer Zukunftssorge, was die Rentenkritiker treibt, sondern häufig sind es handfeste Geschäftsinteressen,“ so unlängst Norbert Blüm.   Schon bei der Einführung der Riester-Renten hatte er kommentiert: „Das Umlageverfahren wird verteufelt, das Kapitaldeckungsverfahren heilig gesprochen.   Könnte es jedoch vielleicht auch sein, dass die Todesanzeigen für die Rentenversicherung  von handfesten Interessen der  Versicherungswirtschaft gesteuert werden?“  Und Peter Bofinger, heute  Mitglied im Rat der fünf Wirtschaftsweisen, befand: „Die einzige echte Bedrohung des Rentensystems  ist nicht die Demographie und eine zu geringe Ersparnis, sondern allein der derzeitige Aktionismus des Hauses Riester.“

Jener alternativenblinde Reformeifer, der den Druck hin auf eine kapitalgedeckte Privatvorsorge bis zum Zwang steigern möchte, ist rational schwer nachvollziehbar. Die Erwerbsquoten der 55-64jährigen liegen in Deutschland  bei 39,2 %, in Schweden bei 69,5 %. Auch die Erwerbsquoten der Frauen sind in Deutschland niedrig.  Doch schon ein Anstieg der Produktivität  von nur 1,2 %  pro Jahr lässt ceteris paribus das Volkseinkommen bis 2030 um ein Drittel wachsen und macht  folglich auch real um ein Drittel höhere Versicherungsbeiträge   leicht bezahlbar. Und als ließe sich durch kinderfreundliche Politik   nicht – wie heute in Frankreich oder einst in der DDR – die Geburtenrate kräftig verbessern. In den 80er Jahren, als in Westdeutschland schon deutlich mehr gestorben als geboren wurde, gab es in Ostdeutschland  wieder einen Geburtenüberschuss und dies   bei einer Frauenerwerbsquote  um  90 Prozent (gegenüber etwa 43 Prozent in Westdeutschland). Kinder sind bei uns noch immer ein high-risk-low-profit-investment. Das gewichtete Pro-Kopf-Einkommen liegt bei Familien mit Kindern um ein Drittel und bei Alleinerziehenden um die Hälfte niedriger als bei kinderlosen Paaren. Auch das ist eine spezifisch deutsche Anomalie und sei, wie der soeben vorgelegte  Familienbericht spitz vermerkt, „einer politischen Gestaltung zugänglich“.   Und als hätten wir nicht die längsten Schul- und Hochschulzeiten der Welt, mit Abitur nahe 20 und Uni-Abgang mit einem Alter um 29, statt um 24 wie international eher üblich.  Nicht nur das Austrittsalter aus dem Arbeitsleben, auch als das Eintrittsalter ist ein deutsches Problem.  Andernlands werden die Geburten   auf die Zeit nach dem Studium verschoben, in Deutschland wird weitgehend darauf verzichtet.
Fazit: Zur Abmilderung der  wirtschaftlichen Folgen  des demografischen Alterungsprozesses  ist eine allgemeine kapitalgedeckte Privatvorsorge  zum ersten wirkungslos und zum zweiten, wäre sie nicht wirkungslos, nicht erforderlich. Volkswirtschaftlich bringt sie keinen Wohlstandszuwachs gegenüber einem beitragsfinanzierten Rentensystem. Sie bewirkt   freilich eine Umverteilung des Volkseinkommens zugunsten der Gewinne, zulasten der Löhne und krass auseinanderklaffende Alterseinkommen. Politische Handlungsfelder wie deutlich früheres Eintrittsalter ins Berufsleben, Integration von Arbeitslosen, Geburtenförderung, Verbesserung der Frauenerwerbsquote, Einwerben ausländischer Fachkräfte und Arbeitschancen für Ältere lassen den dämonisierten demografischen Wandel als zweitrangig erscheinen.

Doch in der Tat steht zu befürchten, dass die Reaktionen auf die demographische Entwicklung  eine  Krise der Altersversorgung herbeiführen. Mit der von der Politik verbreitete Angst vor Armut im Alter und vor dem Verlust an sozialer Sicherung wird die Geburtenneigung weiter geschwächt und mit dem Druck hin zum privaten Notsparen die Wirtschaft gelähmt.  Nach einer Forsa-Umfrage vom Januar 2005 wollen 40 Prozent der Paare zwischen 18  und 49  kinderlos bleiben. Als Hauptgrund wird Unsicherheit über den Arbeitsplatz angegeben.  Anstatt Kinder zu wagen, die vielleicht nach jahrzehntelangen Ausbildungszeiten in der Arbeitslosigkeit landen, sparen die Menschen lieber fürs Alter, nicht  ahnend, dass die volkswirtschaftlichen Folgen   eines kollektiven Sparschubs dessen Segen zunichte machen. So gerät die spezifisch deutsche Hysterisierung des demografischen Alterungsprozesses zur self fullfilling prophecy.

Kategorie: Armut und Hartz IV, Blätter für deutsche und internationale Politik, Lohnpolitik, Neoliberalismus, Renten und Rentenpolitik, Sozialpolitik, Steuern und Abgaben, Steuerflucht und Steueroasen

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