Gedanken zur politischen Aleatorik
Aleatorik ist die Wissenschaft vom Zufall. Eitel ist des Menschen Streben und allzu oft bewirkt es das Gegenteil des Gewollten. „Nun wählt mal schön!“ werden bei Erscheinen dieses Artikels Präsident und Gericht gesagt haben. Denn bei aller über jeden Zweifel erhabenen Neutralität dieser Verfassungsorgane – entscheidende Persönlichkeiten haben nun mal ihren politischen Hintergrund und der wird ihnen derzeit inständig unter die Nase gerieben, zumal angeblich doch fast alle diese Wahlen wollen. Müntes scheinbarer faux pas Minuten vor dem konstruierten Misstrauen – er hatte erklärt, man sei sich einig, dass Gerhard Schröder das Vertrauen der SPD-Fraktion genießt – das war doch nichts anderes als ein flehentlicher Rettungsruf Richtung Karlsruhe, dessen politisches Harakiri doch noch zu stoppen. Wie die Lemminge ist die halbe SPD-Fraktion Gerhard Schröder auf seinem Weg in den politischen Freitod gefolgt. Das übrigens unterscheidet den Bundestags nun doch von der Volkskammer – dort hätten ausnahmslos alle jeden abverlangten Unsinn brav abgenickt. Müntes Erklärung am Abend des für niemanden überraschenden NRW-Desasters, man wolle mit Neuwahlen wieder klare Verhältnisse und Entscheidungsfähigkeit schaffen, verlangte in logischer Konsequenz nach einer schwarzen oder schwarz-gelben Mehrheit im Bundestag, denn der Bundesrat wird nun mal von Bundestagswahlen nicht berührt.
Kaum je zuvor schien ein deutscher Wahlausgang so felsenfest vorab erkennbar, doch unversehens ist fast alle Gewissheit dahin. Was soll der konsternierte sozialdemokratische Stammwähler nun eigentlich tun oder wollen? Ein reiches Menü an Optionen ist geboten, doch was das konkrete Votum zur Wahl dann heraufbringt, an politischen Folgen, das ist so zufällig wie kaum je zuvor. Reich an Paradoxien ist unser Zeitalter, an illustrativen Fällen, wo Wähler und Politiker das schiere Gegenteil des Gewollten bewirkt haben. So verdankt Deutschland den Nationaldemokraten schon mal die Ostverträge Anfang der 70er Jahre. Hätten Adolf von Thaddens Mannen 1969 nicht 4,4 Prozent der Stimmen auf sich gezogen, hätte es keine Regierung Brandt und Scheel gegeben, gegen die dann die Rechten mit skandierten Mordaufforderungen („Scheel und Brandt an die Wand!“) sich zusammenrotteten. Die Epoche der Entspannungspolitik wäre nicht oder sehr viel später eingeläutet worden, vom Anwachsen zwischendeutscher Verkrampfungen ganz zu schweigen. Auch der sächsischen NPD-Wähler innerstes Anliegen bei der letzten Landtagswahl war es wohl kaum, Gerhard Schröder und die Seinen zu stabilisieren. Doch genau das hatten sie bewirkt. Weil der CDU in Dresden aufgrund des Erfolges der Rechtsextremen als einzige arithmetisch und politisch mögliche Lösung nur blieb, die auf den bundesweit historischen Tiefstand von unter 10 Prozent abgetrudelte SPD ins Boot zu nehmen, kann Sachsen seither bei Einspruchsgesetzen im Bundesrat nicht mehr mit den christdemokratischen Wölfen heulen. Die zum Greifen nahe Zweidrittelmehrheit der Union im Bundesrat, mit dem sie jedwedes Gesetz und damit auch den Haushalt blockieren kann, war erst mal wieder in die Ferne gerückt und der Sturz Schröders damit desgleichen. Und in Frankreich werden jene versponnenen Ökoradikalen und Trotzkisten, die ihrem aussichtslosen Traumkandidaten im ersten Wahlgang der letzten Präsidentschaftswahlen gehuldigt haben, sich kaum eine Alternative Chirac-Le Pen als Folge ihres Wirkens gewünscht haben.
Und jener trottelige Spitzengrüne, der kurz vor der letzten Landtagswahl in Thüringen kund tat, die Grünen seien auch für die Schwarzen koalitionsoffen, hat die Leihstimmer aus der SPD verprellt, die ahnten, nur mit den Grünen ließe sich die absolute Mehrheit der Union brechen. Prompt fielen die Grünen unter 5 Prozent, die Union bekam die absolute Mehrheit, Thüringen blieb im Bundesrat fest im Unionsblock und derselbe nach der NRW-Wahl nun doch gefährlich nahe an der Zweidrittelmehrheit. Es verblüfft immer wieder, wie viel auch mediokre Typen mit eher kleinkarätigem Verhalten bewirken. Man ist an Befunde der Chaostheorie erinnert, wonach der Schlag eines Schmetterlingsflügels einen Hurrikan auslösen kann.
Doch dank des Kanzlers Kurzschluss-Entscheidung muss Frau Merkel nicht einmal mehr die Koalition in Kiel platzen lassen und Schleswig-Holstein in Neuwahlen treiben, um dann über den Bundesrat eine Totalblockade zu exekutieren, um Kanzlerin zu werden und das vor der Zeit. Wer weiß denn, wie die politische Wetterlage in einem Jahr ausgesehen hätte, wenn der Schock über die neue Arbeitsmarktstatistik und diverse Hartz-IV-Unbill etwas abgeklungen ist, Niedersachsens Wulff an Popularität und Profil gewonnen hat, dann der Wahlkampf im Schatten der Fußballweltmeisterschaft steht und von dieser mitentschieden wird.
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Reich an Anekdoten kontraproduktiven politischen Engagements und Lavierens ist die deutsche und die Weltgeschichte zumalen. Von fast epochaler Tragik ist der Fall des Ralf Nader. Der Pionier des Verbraucher- und des Umweltschutzes, lange Zeit Einzelkämpfer und dennoch über die Jahrzehnte sensationell erfolgreich, hat mit seiner aussichtslosen Präsidentschaftskandidatur 2000 Al Gore und seinen Demokraten 2,7 Millionen Stimmen entzogen, dabei auch den wahlentscheidenden Sieg von Georg W. Bush in Florida verursacht und einen wohl historisch zu nennenden Politikwechsel Amerikas zu verantworten, unter dem die Völkergemeinschaft ächzt und das globale Ökosystem desgleichen. Ralph Naders Lebenswerk ist durch diese Fehlleistung um Größenordnungen überkompensiert worden.
Doch zurück zur Wahl zum deutschen Parlament. Nicht Wenige dürften diesmal erstaunt sein, welches politische Resultat sie mit ihrer Stimme befördert haben werden. Unser Wahlsystem, eines der kompliziertesten dieser Welt, hat bislang schon einiges an Paradoxien produziert. Hätten etwa bei der Bundestagswahl 1998 20 000 Hamburger mehr für die SPD gestimmt, hätte diese ein Bundestagsmandat weniger bekommen. Und hätten sich damals 30 000 SPD-Wähler in Bremen und 1000 in Brandenburg der Zweistimme enthalten, wäre Karin Raschke aus Berlin zusätzlich für die SPD ins Parlament geraten. Durchgängig wäre in allen Bundestagswahlen seit 1957 die Gesamtzahl der Mandate für die SPD um eines vermindert worden, wenn sie in Bremen eine bestimmte Mindestzahl von Stimmen mehr bekommen hätte bzw. sie wäre um ein Mandat gewachsen bei entsprechend weniger Stimmen. Der CDU wiederum wären 1994 noch zwei Bundestagssitze mehr zugefallen, hätte sie in Thüringen 4000 und in Sachsen 41000 Stimmen weniger erhalten. Das Schöne an diesem System ist, dass kaum je ein Einzelwähler durchschauen wird, was er mit seiner Stimme an Ungewolltem anrichtet, und deshalb von politischen Depressionen verschont bleibt. Demokratie-Dogmatiker glauben in diesen Paradoxien einen Missstand erkennen zum müssen – eine Wählerstimme dürfe sich nie nachteilig für den Gewählten auswirken. Das sei Mindestanforderung an ein Wahlsystem, ansonsten Freiheit, Gleichheit und Unmittelbarkeit der Wahl verletzt seien.
Derlei Absonderlichkeiten rühren selbstredend aus dem Konstrukt der Überhangmandate und die sind Konsequenz des deutschen Zwittersystems eines Verhältnis- und Persönlichkeitswahlrechtes zugleich. Dessen Kreation war zweifellos von lauteren Motiven getragen. Bekanntlich wird die Hälfte der Parlamentssitze als Direktmandat vergeben. Der Wahlkreis fällt an die Kandidatin oder den Kandidaten mit der relativen Mehrheit der Stimmen, auch wenn diese weit unter 50 Prozent liegt. Bekommt eine Partei in einem Bundesland schon über diese Direktmandate mehr Abgeordnete, als ihr nach dem Hare-Niemeyer-Auszählverfahren gemäß ihrem Anteil an den Wählerstimmen zustehen, Überhangmandate eben, so behält sie diese. Wer direkt als Person gewählt ist, ist eben gewählt. Auf diese Weise findet die Macht der Parteiapparate an der Popularität der Kandidaten ihre Grenze. „Durch die Vorschaltung der Mehrheitswahl solle eine engere persönliche Beziehung der Wahlkreisabgeordneten zu dem Wahlkreis, in dem sie gewählt worden sind, geknüpft werden.“ So das Bundesverfassungsgericht (BVerfG. 10.04.1997 – 2 BverfG. 1/95). Doch im Unterschied zu einigen Landtagswahlen werden bei einer Bundestagswahl Überhangmandate nicht durch eine Erhöhung der Abgeordnetenzahl der anderen Parteien ausgeglichen, noch werden sie von der Zahl der Mandate in Abzug gebracht, die einer Partei bundesweit nach ihrem Wählerstimmenanteil zustehen.
Bislang haben Überhangmandate zumindest die Kanzlerwahlen vermutlich nicht entschieden. Adenauer, bekanntlich mit einer Stimme Mehrheit, wenn man das so sehen will, seiner eigenen, gewählt, verfügte damals über ein Überhangmandat seiner Fraktion, doch die SPD desgleichen über eines. 1953-61 gab es insgesamt 11 Überhangmandate, davon 10 für die Union und eines für die Deutsche Partei, ihre Huckepackpartei. ( Beim Huckepack-Verfahren verzichtet eine große Parteil in drei sicheren Wahlkreisen auf eigene Kandidaten und bittet ihre Anhänger, die Erststimme dem kleinen Verbündeten zu geben, der voraussehbar an der 5-Prozent-Hürde kleben bleiben wird. Mit drei Direktmandaten jedoch bekommt er seine Wählerprozente anteilig bedient. Mit diesem Trick hat 1953 die Union die rechtsnationale Deutsche Partei in den Bundestag gehievt, um mit deren drei Prozent an Stimmen Adenauers Mehrheit abzusichern.) Bei den sieben Bundestagswahlen von 1965 bis zur Wiedervereinigung fielen insgesamt nur 4 Überhangmandate an, davon 3 für die SPD.
Bei der jetzt absehbaren Wahl hingegen werden wohl erstmals die von Überhangmandaten verursachten Diskrepanzen signifikant. Die Anteile der großen Parteien an Wählerstimmen und an Parlamentsmandaten werden vermutlich krass auseinander klaffen. Damit ist ein politisches Resultat nicht unwahrscheinlich, das dem Willen der Wählermehrheit klar widerspricht. Seit der deutschen Einheit schon ist die Zahl der Überhangmandate jäh nach oben geschnellt, bis in grundgesetzlich fragwürdige Größenordnungen. 1990 erfreute sich allein die CDU des Segens der Überhangmandate, sechs waren es. Die Wahlen von 1994 ergaben 16 Überhangmandate, davon 12 für die Union. Damit erhielt die CDU für nur 65942 Zweitstimmen ein Bundestagsmandat, während die Grünen 69884 Zweitstimmen pro Mandat aufbringen mussten. Das Grundgebot der Wahlgleichheit war schwerlich noch gewahrt. Ohne Überhangmandate hätte Helmut Kohl 1994 nur über eine Mehrheit von einer einzigen Stimme verfügt. Und ein MdB der Union hatte damals bei der Kanzlerwahl verpennt. Ob der Deutschen Dauerkanzler mit einer solch hauchdünnen Mehrheit noch diese vier Jahre durchregiert hätte und wenn ja, mit welchen Erpressbarkeiten durch jeden beliebigen Hinterbänkler oder wie vorgeführt von gedemütigten Parteifreunden, darüber mag man sinnieren.
Eine Klage Niedersachsens zur Verfassungsmäßigkeit von Überhangmandaten ohne Ausgleich oder Verrechnung ist 1997 in Karlsruhe gescheitert, freilich bei Stimmengleichheit von 4:4 im Zweiten Senat des Bundesverfassungsgerichtes. Allenfalls könne aus früheren Entscheidungen in Karlsruhe gefolgert werden, so in der Urteilsbegründung der vier Ablehner, dass der Gesetzgeber darauf zu achten habe, dass sich die Zahl der Überhangmandate in einem Rahmen hält, der den Grundcharakter der Bundestagswahl als einer am Ergebnis der für die Partei abgegebenen Stimmen orientierten Verhältniswahl nicht aufhebt. (ebda.) Dabei erscheint dem Autor die Argumentation jener vier der acht Richter im befassten Zweiten Senat, welche das Bundeswahlgesetz im Hinblick auf die Überhangmandate als reformbedürftig beurteilten, als überzeugender. In der Begründung ihres Votums wird resümiert:
„Die weitere erhebliche Steigerung der Zahl der Überhangmandate bei der zweiten gesamtdeutschen Wahl ließ dann allerdings deutlich hervortreten, dass eine nachhaltige Veränderung der politischen Verhältnisse eingeleitet worden war. Nunmehr ist zu erwarten, dass Überhangmandate auch künftig – sogar mit steigender Tendenz – in einer Größenordnung auftreten werden, deren kompensationslose Zuteilung eine verfassungsrechtlich nicht mehr zu rechtfertigende Differenzierung des Gewichtes des Wählerstimmen bewirkt.“ (BVerfG. ebenda)
Schließlich war der Parlamentarische Rat dereinst von nur sehr wenigen Überhangmandaten ausgegangen (Parl. Rat Bd. 6 S.790f., 797,799). Doch die Bundestagsmehrheit sah 1996 keinen Handlungsbedarf (Beschlussfassung zum 13.Gesetz zur Änderung des Bundeswahlgesetzes 115.11.96 BGBl.I.S.1712). Zwar wurde eine Wahlrechtsreform über die parlamentarischen Hürden gehievt. Die beschränkte sich jedoch auf die Anpassung der Wahlkreise an den Bevölkerungsschwund im Osten. Die noch tolerablen Abweichungen der Bevölkerungszahlen eines Wahlkreises vom Bundesdurchschnitt wurden herabgesetzt. Ab 15 Prozent sollen, ab 25 Prozent müssen Wahlkreise neu abgegrenzt werden. Die Neuen Länder verloren 13 Wahlkreise, 26 reguläre Bundestagsmandate und damit fast jeden vierten Sitz. Dabei hatten vier der acht Verfassungsrichter gemahnt: „Anderes als noch 1963 kann die Zahl der Überhangmandate nun nicht mehr allein durch eine Wahlkreiseinteilung, welche die durchschnittlichen Bevölkerungszahlen besser berücksichtigt, entscheidend zurückgeführt werden.“ (BVerfG. ebenda) Mit dieser Wahlrechtsreform „ist der Gesetzgebern der dargestellten Verfassungsrechtslage und der deutlich zutage getretenen Veränderung der politischen Verhältnisse nicht gerecht geworden.“ (BVerfG. ebenda). Denn wahrscheinlich wären 1994 auch dann noch 10 Überhangmandate angefallen, wenn alle Wahlkreise bevölkerungsgleich gewesen wären. Auch beim Entfallen des Splitting hätte es noch 10 bis 17 Überhangmandate gegeben.
1998 konnte Rot-Grün die ohnehin fette Mehrheit durch 13 Überhangmandate aufpolstern. 2002 haben vier Überhangmandate der SPD gegen eines der CDU die knappe Kanzlermehrheit immerhin verdoppelt. (Dank dieser Mandate blieb die SPD stärkste Fraktion im Bundestag, und konnte problemlos den Bundestagspräsidenten stellen. Andernfalls hätten Union und SPD je 247 Mandate gehabt.) Von den 40 Überhangmandaten in den 4 Wahlen seit 1990 sind 35 in den Neuen Ländern angefallen. Denn unser Wahlsystem ergibt nur dann politische Mehrheiten im Bundestag nahe denen eines Verhältniswahlrechts mit Fünfprozentklausel, wenn rechts und links halbwegs gleich starke Volksparteien agieren. Doch diese Voraussetzung war in den Neuen Ländern nicht gegeben. Jetzt ist sie auch im Westen hinfällig geworden.
Gesetzt, die Sozialdemokraten kämen im Herbst auf etwa 28 Prozent, die neuerfundenen Linken auf 11 und die Grünen auf 10 Prozent der Stimmen. Dann könnte sich die Union selbst bei mageren 38 Prozent der Stimmen einer komfortablen Bundestagsmehrheit erfreuen. Denn in nicht wenigen Ländern wird die Union dank der Stimmenverteilung bei den irgendwie als links von ihr stehend betrachteten Parteien und deren gegenseitigen Verfeindungen Überhangmandate einer Zahl einfahren, die allein für sich schon machtentscheidend sein könnten, wenn es allein mit den Wählerprozenten bei Schwarzgelb nicht reichen sollte.
Dabei sollten im gespaltenen deutschen Wahlrecht die über die Erststimmen vergebenen Direktmandate nur die personelle und nicht die zahlenmäßige Zusammensetzung des Parlamentes beeinflussen. Dieser Grundcharakter einer am Verhältniswahlrecht orientierten Wahl mit Persönlichkeitskomponente wird hinfällig und dieses Manko wird bleiben. Denn wer der beiden bislang großen Parteien sich gerade einer Mehrheit mit üppiger Zahl von Überhangmandaten erfreut, ist kaum motiviert, an diesem bequemen Ast zu sägen. Er wird nicht die Fragwürdigkeiten im Wahlrecht beseitigen, von denen er gerade profitiert hat – es sei denn, er hat erdrutschartige Verluste zu befürchten wie akut Gerhard Schröder. Doch der hat dazu keine Neigung erkennen lassen, sei es aus Selbstüberschätzung oder aus Lust am Untergang, ebenso wenig wie 1996 Helmut Kohl, als ein Gesetzesantrag von Rot-Grün abgeschmettert wurde, das Problem der Überhangmandate zu entschärfen.
Nach der Momentaufnahme von Infratest/Dimap von Mitte Juli stürzt die SPD gegenüber 2002 im Westen von 38,3 auf 27 Prozent, 7 Prozent fallen auf die Linkspartei, 10 auf die Grünen und 45 auf die CDU. Selbst alle Vorstellbarkeiten einer Trendwende ausphantasiert werden westliche Wahlkreise en masse an die Union verloren gehen, von Schleswig-Holstein bis Baden-Württemberg. Denn nicht wenige Wähler haben bei den letzten Landtagswahlen nur deshalb nicht links von der SPD gewählt, weil sie nicht wollten, dass ihre Stimme an der Fünfprozenthürde verloren geht. Dieses Motiv einer Zurückhaltung ist hinfällig geworden. Im Übrigen neigen Wähler von radikalen oder sonst irgendwie von den Medien geächteten Parteien dazu, sich in Umfragen nicht zu bekennen. Überhangmandate der Union sind in NRW zu erwarten, wo die CDU letztmals nur 19 von 63 Wahlkreise holen konnte, in Hessen (2002 4 von 21 Wahlkreisen für die Union) in Niedersachsen (2002 4 von 25 Wahlkreisen für die Union) usw. In Berlin hat die CDU zwar gute Chancen, der SPD die sechs Westberliner Wahlkreise Reinickendorf, Spandau-Charlottenburg, Steglitz-Zehlendorf, Charlottenburg-Wilmersdorf, Neukölln und Tempelhof-Schöneberg abzunehmen und dies selbst dann, wenn sie Stimmen verliert. Denn die SPD wird stärker gefleddert werden. Doch das ergibt wohl allenfalls ein Überhangmandat, denn im Osten der Stadt bekommt die CDU keinen Fuß in die Tür. (In Friedrichshain-Kreuberg war sie 2002 mit 13 Prozent vierte Kraft, in Pankow konnte sie mit immerhin 16,8 Prozent jeden achten Wähler hinter sich scharen.)
Völlig offen dagegen ist das Rennen in den Neuen Ländern. Sicher ist hier nur eines – ein Absturz der SPD. 19 der 20 Wahlkreise hat die SPD 2002 in Sachsen-Anhalt und Thüringen geholt und dazu drei Überhangmandate. Ob davon auch nur drei übrigbleiben, steht in den Sternen. Doch wer davon profitiert, das ist kaum prognostizierbar. Locker wird die CDU fast überall an der SPD vorbeiziehen, doch in nicht wenigen Fällen wieder die Linkspartei an der Union. Von den 90 Mandaten der Neuen Länder (ohne Berlin) waren 2002 46 auf die SPD gefallen und 31 auf die CDU. Derzeit jedoch liegt die Linkspartei in den Umfragen dort mit 31 Prozent vor Union (29 Prozent) und SPD (25 Prozent). Insofern ist das Wahlresultat im Osten für Zufälligkeiten und Stimmenverteilungen im Nachkomma- und Mikrobereich anfällig wie nie zuvor. Überhangmandate für die Linkspartei sind keineswegs abwegig.
Jene Paradoxien, dass ein Plus an Stimmen zu weniger Mandaten führen kann und vice versa, entstehen, wenn etwa in einem Land ein Stimmenplus ein Überhangmandat in ein reguläres Mandat gemäß Zweitstimmenliste verwandeln würde, dieses Plus aber nicht so groß ist, dass damit im Bundesproporz ein Anspruch auf ein zusätzliches Mandat zu Lasten einer anderen Partei entsteht (etwa 77000 Zweitstimmen). Dieser Effekt, dass ein Wähler mit seiner Stimme seiner Partei schadet, kann in nicht wenigen Ländern zugleich auftreten.
Der Spuk und Störeffekt der Überhangmandate wird durch Stimmensplitting noch verstärkt. Davon wird mit wachsender Tendenz Gebrauch gemacht, freilich im Westen um ein Vielfaches stärker als im Osten (bei den Grünen 2002 im Westen 36, im Osten 7 Prozent, bei der SPD 10 versus 2 Prozent usw.) 12 Prozent der Erststimmenwähler der SPD wählten 2002 mit der Zweitstimme grün, freilich auch 37 Prozent der Erststimmenwähler der Grünen SPD und 7,5 Prozent der CDU-Erststimmenwähler FDP. Der Zweitstimmenüberhang der Grünen von 1,4 Millionen deckt nahezu den Erststimmenüberhang den SPD von 1,7 Millionen. Die FDP verbuchte 786 000 mehr Zweit- als Erststimmen. Vom Stimmensplitting der Liberalen profitierte die CDU, hingegen so gut wie gar nicht die CSU.
Diesmal freilich wird es kaum noch so harmonisch laufen. SPD und auch schon Grüne lassen erkennen, nach mehreren Seiten koalitionsoffen zu sein. Grüne Erststimmen für Kandidaten einer SPD, die unüberhörbar von einer großen Koalition schwadroniert, wird es kaum geben. Und Leihstimmen von einer SPD, die unter die Selbstachtungsgrenze zu stürzen droht, auch kaum. Auch die Wähler einer Partei, die aus Frust und Wut über Gerhard Schröder und Wolfgang Clement geboren wurde und von diesen inständig herabgewürdigt wird, dürften wenig Leidenschaft spüren, deren Kandidaten mit ihrer Erststimme ins Parlament zu befördern. Und Menschen mit ungebrochen sozialdemokratischer Identität könnten mit der Erststimme Wahlkreiskandidaten zu stützen, die für die Sozial-, die Arbeits- und die Steuerpolitik ihres Kanzlers kaum verantwortlich zu machen sind, doch dabei zur Überzeugung neigen, damit ihrer Parteipflicht diesmal genügt zu haben.
So ist absehbar, das die neue Linkspartei, sofern sie nicht im Osten den Löwenanteil der Wahlkreise erobert, dem Gespann Merkel-Westerwelle eine solide Bundestagsmehrheit beschert oder gar der farblosen Angela eine absolute Mehrheit. Nicht Wenige, darunter auch der DGB, sehen darin noch nicht den worst case , sondern das kleiner Übel gegenüber Schwarz-Gelb. Denn die zur Selbständigen- und Freiberuflerlobby verkommene FDP gilt inzwischen als Inkarnation des sozialen Zynismus. Zugleich gebricht es dem Forderungskatalog dieser „Partei der Ichlinge“ (Horst Seehofer) in einem Ausmaß an Seriosität und Finanzierbarkeit, dass hier von ultraliberalem Rechtspopulismus zu sprechen ist und das mit nicht weniger Recht als bei Lafontaine und Gysi von Linkspopulismus. Ein historischer Rückblick auf die Kette der bemitleidenswert mediokren FDP-Wirtschaftsminister, von dereinst Schmücker bis zu Bangemann, Hausmann, Möllemann und schließlich Rexrodt rechtfertigt auch mitnichten den Selbstanspruch dieses Vereins als Wirtschaftspartei.
Sensiblerweise hat Exkanzlerkandidat Westerwelle seit dem Absturz Möllemanns auf neue Juxideen und sonstige öffentliche Peinlichkeiten verzichtet. Der Frühling des juvenilen, prahlerischen, bedenkenlosen Neuliberalismus ist irgendwie passé. Das ist selbst Spaß-Guido aufgefallen. Doch desto krasser dringt die anti- und asoziale Raffgier seiner Klientel in die Wahrnehmung. ( Spitzensteuersatz von 35 Prozent, Abschaffung von Gewerbesteuer und Pendlerpauschale und der Steuerfreiheit für Nachtarbeitszuschläge usw. – die Stoßrichtung könnte klarer kaum sein.)
Dass freilich Leute allein deshalb die blasse Angela wählen, um über eine absolute Unionsmehrheit das Hineinpfuschen der Westerwelle-Crew in eine Regierung zu verhindern, ist auszuschließen, zumal eine rechte Mehrheit ja keineswegs gewiss ist. Auch wenn viele der langangekündigten antisozialstaatlichen Marterinstrumente und Brutalitäten sich erstaunlicherweise im Wahlprogramm nicht finden – auch der Rest verleiht dieser Partei genug Identität. Da will sie ihre Kopfpauschale, Verzeihung Gesundheitsprämie, auf 7 Prozent vom Einkommen festsetzen, maximal 109 Euro. Keiner soll mehr zahlen als bisher, der etwas besser Verdienende (ab 1557 Euro im Monat mithin) deutlich weniger. Zugleich wird der Arbeitgeberbeitrag auf 6,5 Prozent eingefroren. Wo soll das fehlende Geld herkommen? Aus den Steuern, als Subventionen. Von 35 Milliarden p.a. ist zu lesen. Doch Subventionen wollte man doch kräftig zurückstutzen. Fazit: Diese Gesundheitsreform wäre ein Entlastungsprogramm für Gutverdienende und Arbeitgeber, bezahlt aus der Staatskasse. Und weil dennoch das Geld die Kosten kaum decken wird, ist die nächste Vollprivatisierung medizinischer Notwendigkeiten vorprogrammiert.
Die Mehrwertsteuern hoch und die Lohnnebenkosten dafür runter – das wird seit langem durchdacht. Von der immer wieder von der SPD-Linken geforderten Wertschöpfungssteuer unterscheiden sich Mehrwertsteuern kaum. Sie liegen nicht auf den Exporten, doch auf den Importen, Sozialabgaben dagegen auf den Exporten, nicht aber auf den Importen. Doch die internationale Konkurrenzfähigkeit ist eines der wenigen Probleme, die Deutschland derzeit evident nicht hat. Die subventionierte Senkung nicht der Rentenbeiträge, sondern der zur Arbeitslosenversicherung ist fragwürdig. Denn die hatte sich bislang aus ihren Beiträgen fast vollständig selbst getragen. Aller Bürger Kaufkraft sinkt mit steigenden Mehrwertsteuern, doch am stärksten die der Transfereinkommen, der Renten, Sozialhilfen, Stipendien usw. Die haben nichts von absinkenden Lohnnebenkosten und müssten kompensiert werden. Dazu findet sich kein Wort.
Die Quadratur von Friedrich Merz seinem Bierdeckel wird wohl vorankommen – sei es unter christ- oder freidemokratischem Etikett, samt des Nachweises, dass ein Spitzensteuersatz von nur noch 35 Prozent gerade den Armen nützt, weil er Arbeitsplätze schaffe und damit auch zu höheren Renten führen tät. Herrn Tietmeyers Initiative „Neue Soziale Marktwirtschaft“ und andere „Denkfabriken“ diesen Couleurs leben ja in enger Symbiose zu bestimmten Massenmedien.
Zum andern sind aus der Sicht der Hartz-Geschockten die Unterschiede zwischen Schröders Kurs und dem der Union trotz all der sozialstaatlichen Wahlkampf-Mimikry kaum wahrnehmbar. Das Argument von der SPD als dem kleineren Übel sticht bei allzu vielen nicht mehr. Selbstredend haben wir nur deshalb „ein Ausmaß an Armut, wie es in der jüngeren deutschen Geschichte beispiellos ist“ (so die Präsidentin des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes Barbara Stolterfoht), lebt nur deshalb im Osten schon jedes vierte Kind unterhalb der Armutsgrenze, weil die Reformen noch nicht so richtig gegriffen haben, teils auch noch nicht radikal genug sind und die kraft Leistungskürzungen gesetzten Leistungsanreize nicht reizvoll genug. Wer geht schon arbeiten, wenn er 332 oder 349 Euro pro Monat auch so auf die faule Hand bekommt! Erstmals in der bundesdeutschen Geschichte fürchtet die Mehrheit den persönlichen Absturz ins nackte Elend infolge unverschuldeter Arbeitslosigkeit. Dass die Union im Bundesrat noch brutalere Reformgesetze vorgelegt hat, wird nicht wahr- oder ernstgenommen. Und die Litanei von den gnadenlosen Globalisierungzwängen kommt immer weniger an in einem Land, das Jahr für Jahr von neuem den größten Exportüberschuss der Weltwirtschaftsgeschichte einfährt.
So wird es diesmal nicht allzu viel an taktischem Wählerverhalten geben. Jede Partei ist sich selbst die nächste. Koalitionsmodelle spielen bis zum Wahltag keine Rolle. Schier unglaublich, wie dieser neue Verein, die Linkspartei, schon in den Wochen vor ihrer formalen Erschaffung den Wahlkampf beherrscht. Was sind all die anderen urplötzlich so sozial, zumindest im Wahlprogramm! Die deutsche politische Landschaft ist aufgemischt wie noch nicht mal nach der Wiedervereinigung. Der Gourmet und Lebemann Lafontaine mit dem bewundernswert eloquenten Gysi, dieses Gespann als Bannerträger und Erlöser der Erniedrigten und Verbitterten, das hat schon was. Ob Oskar wohl seine Kolumne in BILD behalten darf? Der „Spiegel“ hat gegen ihn soviel Schaum vorm Mund, als stünde dessen Verstaatlichung ganz oben im linken Wahlprogramm.
Zum öffentlichen Entsetzen der PDS wildert Lafontaine nicht nur in sozialdemokratischen Gefilden, sondern auch am rechten Rand im depressiven Osten. Zugleich darf man spekulieren, wie stark NPD, DVU, Reps und dergleichen in der Ex-DDR längst wären, gäbe es dort nicht die PDS. Anzusprechen sind die Enttäuschten der Gesellschaft, die „in erheblichen Teilen auch gar kein im Selbstverständnis linkes Potential“ sind, so war in einem frühen Strategiepapier der WASG zu lesen (SZ 18.6.5) Gewisse öffentliche Grübeleien des Saarländers, etwa in Sachen Vernehmungspraxis, lassen einen freilich selbst dann frösteln, wenn man sie nicht seiner Überzeugung, sondern seinem Wahlkampfpopulismus zuschreibt.
Ganz Clevere in der SPD hoffen verstohlen, die Linkspartei werde diejenigen der sozialdemokratischen Stammwähler einfangen, die aus Frust über Schröders Kurs und die noch schärferen Reformdrohungen aus anderen Parteien gar nicht mehr wählen gegangen sind, mit deren Reaktivierung eine Schwarz-Gelbe Mehrheit verhindern und damit eine große Koalition erzwingen. Denn dass die Einbrüche der SPD in fast allen Wahlen seit 1998 sich weniger aus Wählerwanderungen erklären, sondern daraus, dass die Leute keine für sie wählbare Alternative gefunden haben, nicht in der DKP und der KPD, auch nicht in der Tierschutz- und der Familienpartei, und deshalb zuhause geblieben sind, das ist evident. Im Bundestag sehen sie eine de-facto-Koalition aller vier Fraktionen beim Vorantreiben dessen, was mit dem Angst- und Unwort „Reform“ belegt ist. Gelingt es der Linkspartei in der Tat, die Masse der von Zukunftsvergällung und täglicher Reform- und Standortrhetorik Verängstigten und Verbitterten zu fesseln, so ist der schwarzgelbe Blütentraum dahin. Konsequenz wäre die große Koalition. Die sachliche Schnittmenge ist gewaltig. Schröder als Minor Partner unter Frau Kanzlerin Merkel wäre eine prickelnde Liaison, deren Stabilität sich freilich in Grenzen hielte. Noch weniger wahrscheinlich ist eine politische Liebesheirat zwischen dem vorletzten und dem letzten SPD-Chef.
Kurzum, am day after wird Gerhard Schröder schlagartig zur politischen Unperson verwandelt. In keinem absehbaren Koalitionsmodell ist er noch unterzubringen. Was für eine Vision von Sozialdemokratie dann in dieser Partei obsiegt – niemand weiß es. So steht die Wahlurne vorm Wähler als Zufallsgenerator. Weder weiß er genau, ob er mit seiner Stimme seiner Partei nutzt oder schadet, noch kann er aufgrund des hälftigen Mehrheitswahlrechts und der neuen Parteilandschaft erkennen, welche Parlamentsmehrheiten er befördert, noch ahnen, mit welchen politischen Großprojekten die Neuen im Kanzleramt Land und Volk überziehen. Stärker als von der Verteilung der Wählerpräferenzen zwischen irgendwie links und rechts kann das deutsche Wahlergebnis bestimmt werden von Zufälligkeiten der Parteienstruktur und Stimmenverteilung innerhalb eines linken oder rechten Wählerspektrums.
Nationen mit Mehrheitswahlrecht sehen meist, wie Frankreich, einen zweiten Wahlgang in denjenigen Wahlkreisen vor, wo keiner im ersten Wahlgang die 50 Prozent-Schwelle erreicht. Andernfalls, so in den USA und Großbritannien, führt das zu einer Erstarrung der Parteienstruktur. Allein deshalb schon haben in solchen Nationen neue Parteien wie die Grünen kaum eine Chance. Die ökologischen Belange führen ein Schattendasein ganz unten auf der politischen Agenda. Dennoch können kurze Außenseiterauftritte wie der Ralf Naders Zünglein an der Waage sein und zu Resultaten wider die Mehrheit führen. In solchen Staaten sind die Parteien eher Koalitionen politischer Kräfte, da jemand, der wirken will, sich unter deren Mantel engagieren wird. Doch das ist bekannt und verstattet deshalb ein stärker vernunftgesteuertes Verhalten als in einem Staat mit halbem Mehrheitswahlrecht, vielfältiger Parteienstruktur und nur einem Wahlgang.
Eine Reform des deutschen Wahlrechts ist überfällig. Man kann zum ersten Überhangmandate mit der einer Partei nach Bundesliste zustehenden Zahl der Mandate verrechnen. Dagegen spricht nur, dass die Übergewichtung eines Landes im Bundestag infolge von Überhangmandaten dadurch noch verstärkt würde. Doch der Bundestag ist kein Organ der Länder, für deren Interessendurchsetzung gibt es den Bundesrat. („… kann das Erfordernis eines föderalen Proporzes der Landeslisten untereinander dem Grundgesetz nicht entnommen werden. Der Gesetzgeber ist nicht verpflichtet, föderale Belange bei der Gestaltung des Wahlrechtes zum Bundestag… zu berücksichtigen.“ BVerfG, ebda, Votum der auf Reformbedarf erkennenden vier Richter). – Man kann zum zweiten Ausgleichsmandate zulassen wie bei Landtagswahlen üblich. Für Überhangmandate einer Partei bekommen die anderen Parteien Zusatzmandate, so dass Mehrheitsverhältnisse im Parlament proportional zur Stimmenverteilung gewahrt bleiben. Dagegen spricht nur, dass bei sehr vielen Überhangmandaten der Bundestag deutlich vergrößert würde. – Und man kann auf den Stimmzetteln die Option schaffen, einen zweiten Direktkandidaten anzukreuzen, dem die Stimme dann zufällt, wenn der Erstgekreuzte nicht mindestens der Zweitplazierte wird. Das entspricht einem zweiten Wahlgang schon im ersten und ist angesichts des Standes der Computertechnik tragbar aufwendig. Mit einem solchen allgemeinen Angebot zum Splitting wird einem elementar-demokratischen Verlangen entsprochen. Es wird verhindert, dass jemand gegen die Wählermehrheit einen Wahlkreis vertritt, nur weil sich die Stimmen der gegen ihn Gestimmten zunächst ungünstig über mehrere Kandidaten verteilen. Nur hat diese Idee eben das Manko, dass die Zahl der Überhangmandate steigt. Denn Wahlkreise fallen an Kandidaten mit weniger Zweistimmen. Einfachste Lösung ist wieder die Verrechnung aller Direktmandate mit der Zahl der nach Zweitstimmenanteil gemäß ihren verbundenen Landeslisten einer Partei zustehenden Mandate. Überhangmandate gäbe es dann nur noch in dem sehr unwahrscheinlichen Fall, dass eine Partei bundesweit mehr Wahlkreise holt, als ihr Mandate nach Zweitstimmenanteil zustehen. Zweite naheliegende Lösung wären eben Ausgleichsmandate für Bundeslisten. Damit die Zahl der Abgeordneten sich in sinnvollen Grenzen hält, könnte man Wahlkreise zu vergrößern; mithin deren Zahl vermindern. Auch das Verhältnis 50:50 von Listen- zu Direktmandaten ist nicht vom Grundgesetz vorgegeben. Bei allen diesen Reformmodellen bliebe der Grundcharakter einer personalisierten Verhältniswahl gewahrt und der ist gegenwärtig offenkundig gefährdet.
Doch was ansteht, ist derzeit keine Wahlrechtsreform, sondern eine Wahl. Welche Konstellationen im Kanzleramt können im Herbst auf uns zukommen?
– Fall eins: CDU/CSU schaffen trotz Angelas kaltem Charme und dürftigem Esprit die absolute Mehrheit. Der Klassenkampf würde sich auf die Straße und in die Union verlagern, soweit man den Damen und Herren der CDA dergleichen zutrauen darf.
– Fall zwei: Schwarz-Gelb wird arithmetisch möglich und folglich gemacht. Man wird sich warm anziehen müssen, wenngleich Guidos Leute kaum Verhandlungsmacht haben, denn die FDP hat keine Alternative, Angela aber die Option der großen Koalition.
– Fall drei: eben diese – Fortsetzung von Schröders Kurs mit teils anderem Personal.
– Fall vier: Schwarz-Gelb reicht nicht. Eine große Koalition, doch mit Alternativen nicht für die Union, sondern nur für die SPD, mit Kanzlerschaft selbstredend des größeren Partners. Der Kurs wäre ziemlich der gleiche wie in Fall drei.
– Eine rote oder rot-grüne Minderheitsregierung, toleriert entweder
– fünftens, von den Schwarzen oder
– sechstens von dunkelrot. Schließlich kann die SPD-Elite dann mehr und bessere Jobs besetzen denn als Minor Partner der Union. Zur Gesichtswahrung mag man eine kurzlebige Ehe mit der Union zwischenschalten.
– Fall sieben: Eine schwarze Minderheitsregierung, toleriert von der SPD und von Gelb oder Grün, ein politischer Kurs ähnlich wie in Fall drei bis fünf.
– Fall acht: Den Umfragen nach liegt Grün vor Gelb. Nicht auszuschließen ist deshalb eine schwarz-grüne Mehrheit. Auch das bedarf, obgleich diese Konstellation irgendwann absehbar ist und von grünen Topleuten mehr oder weniger vorsichtig vorbereitet wird, einer Übergangs- und Zwischenlösung. Die grüne Basis braucht noch etwas an Umerziehung.
Damit erschöpfen sich die politischen Alternativen für Deutschland im Herbst 2005, denen irgendeine Wahrscheinlichkeit zuzuschreiben ist. Es sind mehr als öffentlich im Blickfeld stehen. Insofern werden die nächsten Monate wohl spannender, als das im Mai absehbar war.
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