Empfang des Instituts der deutschen Wirtschaft in Berlin, Mitte Januar d.J. – der Chefposten im Hauptstadtbüro wird neu besetzt. Doch nach Feiern ist den Rednern kaum zumute. Empörung, schrille Warnrufe, Bestürzung dominieren. Unheil dräut. Nein, nicht die Kaskaden von Bankenkrisen, nicht die staatlichen Multimilliarden zur Rettung von Industriekreditbank, Sachsen- und WestLB und auch nicht die Gefahr einer weltweiten Depression verstören. Es ist der Mindestlohn. „Eine Entscheidung, die in ihren Folgen katastrophal sein wird“, so Klaus Barbier, Vorsitzender der Ludwig-Ehrhard-Stiftung. „Wir werden durch ein tiefes Tal der Massenarbeitslosigkeit zu wandern haben […]. Die Armen werden arm sein, wir würgen [sic!] sie mit dem Mindestlohn in die Arbeitslosigkeit.“ Der Mindestlohn sei „der größte Fehler aller Zeiten“. Eine bestimmte politische Führungsperson solle sich morgens beim Blick in den Spiegel sagen: Du hast dem Land geschadet, um die nächste Wahl zu gewinnen. Und im nunmehr expliziten Bezug auf die Kanzlerin: Noch nie habe es einen solchen Tiefpunkt gegeben zwischen dem, was sie können könnte und dem politischem Handeln. Dabei geht es ja derzeit nur um die Post und einige wenige andere Bereiche, noch nicht um eine allgemeine Lohnschranke nach unten. Doch schon das sei „die schlimmste Entscheidung auf dem Gebiet der Wirtschaftspolitik“, so Barbier. Der aus dem Berliner Job scheidende (Vorname) Schatz, in der Endphase Kohl Abteilungsleiter Wirtschaftspolitik im Bundesministerium für Wirtschaft, erinnerte an die Spätphase der DDR. „Hier wird vom Parteivorstand beschlossen, dass das Wasser bergauf fließt.“ Wenn die Wirtschaftspolitik besonders schlecht sei, dann sei die Bringschuld der Wirtschaftswissenschaften besonders hoch. Werfen wir deshalb einen Blick auf das, was diese Experten in Wahrnehmung ihrer Bringschuld an Expertise zu bieten haben: Drei Tage zuvor hatte Hans-Werner Sinn, Chef des Ifo-Instituts München und laut „Bild-Zeitung“ Deutschlands klügster Ökonom, die Vernichtung von 1,1 Mio. Arbeitsplätzen durch einen Mindestlohn von 7,50 Euro prognostiziert. „Der deutsche Neosozialismus ist in der Tat besorgniserregend“, so Herr Sinn.[1] Und Michael Hüther, Chef des Instituts der Deutschen Wirtschaft, befand in „Bild am Sonntag“, bis zu vier Mio. Jobs seien gefährdet.[2] Schon die Diskrepanz dieser Prognosen wirft ein Schlaglicht auf deren Seriosität. Gefragt, wie er auf diese vier Millionen komme, verweist Michael Hüther auf das Sozio-ökonomische Panel (SOEP): Das sei die Zahl der Menschen, die derzeit pro Stunde weniger als diesen Mindestlohn bekommen. Ja, ob er denn glaube, dass niemand mehr zum Friseur gehe oder im Hotel übernachte, wenn Friseusen und Zimmermädchen einen überlebensfähigen Lohn bekämen? „Das war eben ein grober Keil auf einen groben Klotz.“ Soviel zur Wertigkeit öffentlicher Expertisen von dieser Seite. Mindestlöhne schaffen keine Arbeitsplätze, so wird den Befürwortern entgegengehalten. Das hat freilich auch niemand behauptet. Das ist nicht deren Zweck. Sie sollen überlebensfähige Einkommen sichern. Von den 27 Nationen der EU haben bekanntlich 20 einen allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn und Schweden, Finnland, Dänemark, Österreich sowie Italien voll wirksame funktonale Äquivalente. Nur Zypern und Deutschland sind draußen vor. In Großbritannien, den Niederlanden, Luxemburg, Irland und Frankreich liegt der Mindestlohn über dem hierzulande angestrebten Niveau. Nirgendwo, auch nicht in den USA, sind beschäftigungsschädigende Wirkungen von Mindestlöhnen sichtbar. Deren Gegner berufen sich auf das Grundgesetz der Marktwirtschaft – auf die Preisbildung durch freien Wettbewerb – und dringen auf Kombi- statt auf Mindestlöhne. Ihre Argumentation firmiert rein ordnungspolitisch und reklamiert für sich die reine Rationalität: „In der aktuellen Diskussion um die Einführung von Mindestlöhnen wird das grundlegende Prinzip der Marktwirtschaft – die Regulierung von Angebot und Nachfrage durch den Preismechanismus – stark vernachlässigt, wenn nicht gar bezweifelt. Jedem Verbraucher leuchten die Zusammenhänge der Gütermärkte sofort ein: steigt der Preis für Äpfel, werden weniger Äpfel gegessen; verteuert sich Benzin, so fährt man weniger Auto […]. Auf dem Arbeitsmarkt glaubt man, von diesem Grundprinzip abweichen zu können, ohne dass es zu negativen Effekten auf die nachgefragte Menge an Arbeit käme“[3].
Kostengerechte Arbeitspreise vs. Subventionswirtschaft
Messen wir diese Debatte an ihrer ordnungspolitischen Verantwortbarkeit: Der Preis einer Ware im Überangebot sinkt, solange sie im Überangebot ist, im äußersten Fall bis auf Null. Man sagt, „der Preis klärt den Markt“. In der Realität sinkt er, bis die Preise die Kosten nicht mehr decken, und kurzzeitig auch darunter, bis das Überangebot verramscht ist. Werden Produktion und Verkauf zum Verlustgeschäft, verschwinden Anbieter vom Markt. Wer billiger produzieren kann, sei es dank Innovation oder Bescheidenheit, obsiegt. Insofern spiegeln die Marktpreise die gesellschaftlich notwendigen Produktionskosten (plus Durchschnittsrendite). Abweichungen davon sind bei unbehindertem Wettbewerb, für den die Kartellämter Sorge zu tragen haben, meist kurzlebig. Jede Subvention und jeder andere willkürliche Einfluss auf die Preise stören die faire Konkurrenz und führen zu volkswirtschaftlichen Verlusten. Genau daran sind die Zentralen Planwirtschaften ökonomisch zugrunde gegangen. Weil Markt und Wettbewerb dort fast in toto eliminiert worden sind, konnte man in einer hocharbeitsteiligen Industrie letztlich von keiner Produktion mehr wissen, ob sie in irgendeinem Sinn rentabel war und ob die Ware mit Verlust oder mit Gewinn verkauft wurde. Mit der Nichtexistenz wettbewerbsbestimmter und insofern kostengerechter Preise fehlten die elementaren Orientierungsmarken für rationales Verhalten. Die gesamte Ökonomie war im Blindflug. Die Folgen waren Vergeudung und schließlich bittere Armut. Der stärkste Kostenfaktor einer jeden Wirtschaft ist die Arbeit. Deren Entlohnung bestimmt – inklusive der in den Vorprodukten inkorporierten Lohnkosten – den Hauptteil der Preise. [Nun haben wir gerade in der Nokia-Diskussion ja das Gegenteil gehört: nur zu fünf Prozent würden sich die Löhne in den Gesamtkosten wiederfinden…?] Die Mindestkosten der Arbeitskräfte sind das, was zum Überleben gebraucht wird. Decken Löhne nicht mehr diese Subsistenzkosten, so verschwinden Arbeitskräfte in einer völlig entstaatlichten Marktwirtschaft aus deren Markt – freilich lassen sie sich nicht ganz so schnell verramschen wie vormalige Bestseller, wie Äpfel oder T-Shirts. Und ein Lohn, der als Preis der Arbeitskraft „den Markt klärt“, wie das etwa von Hans-Werner Sinn gefordert wird,[4] ist grundgesetzwidrig. Dann ist hierzulande der Staat gezwungen einzuspringen, um mit Lohnsubventionen oder Stütze das Überleben zu sichern. Dieses Kombilohn-Modell wird in der Bundesrepublik von den Gralshütern des ordnungspolitischen Reinheitsgebotes der Zumutung eines Mindestlohnes entgegengesetzt – eine paradoxe Kontroverse fürwahr: Gewerkschaften und SPD streiten für kostengerechte Mindestpreise der Arbeitskraft und insofern für marktwirtschaftliche Rationalität – dafür eben, dass die Kosten der Arbeit in die Preise einfließen. Union, FDP, Unternehmerverbände und deren Experten dringen auf eine Subventionswirtschaft, in der die Kosten der Arbeitskraft weithin vom Staat getragen werden und die Preise deshalb nicht mehr die realen Kosten spiegeln. Damit holt sich Deutschlands Volkswirtschaft genau jene tödliche Krankheit, an der die sozialistischen Länder litten und schließlich zugrunde gegangen sind.
Ordnungspolitischer Kardinalfehler
Auf den ersten Blick erscheinen Kombilöhne als verlockend: Ist der Ertrag einer Arbeitskraft für eine Firma geringer als ein Subsistenzlohn und diese Diskrepanz niedriger als die Stütze für den Arbeitslosen, dann kann es für alle drei – für Unternehmer, Arbeitskraft und Staat – vorteilhaft sein, wenn der Staat einen Teil des Lohnes trägt. Nicht zuletzt, weil damit auch das Volkseinkommen steigt. Dagegen freilich steht der Drehtüreffekt. Mit hoher Wahrscheinlichkeit sichert der marktwirtschaftliche Wettbewerb, dass die subventionierte Arbeitskraft mit geringem Zeitverzug eine unsubventionierte verdrängt. Die unvermeidbare Folge sind lawinenhaft sich ausbreitende Lohnsubventionen und schwer gestörte Preismechanismen, ohne dass im Saldo die Arbeitslosigkeit sinkt. Gewiss gibt es eine zusätzliche Nachfrage nach Arbeitskräften, sofern deren Lohn unter die Überlebensgrenze sinkt. Das gilt freilich für jeden beliebig niedrigen Lohn. Die Preis-Nachfrage-Kurve nach Arbeitskräften bricht ja nicht an irgendeinem Punkt ab. Insofern ist eine Entscheidung, welches Lohnniveau man akzeptiert und sodann mit Subventionen aufstockt, willkürlich – mit der einzigen Ausnahme des Existenzminimums. Nur dieses Mindestlohnniveau ist aus elementarer ökonomischer Rationalität begründbar und von Fachgremien – strittig niedrig – auf Hartz-IV-Niveau bestimmt worden. (Der Bruttolohn, bis zu dem jemand Aufstockung gemäß Sozialgesetzbuch II beantragen kann, liegt wohl bei 7,94 Euro.[5]) Eine im Saldo positive Wirkung auf die Nachfrage nach Arbeitskräften ist auch bei den in den USA, Großbritannien und Frankreich gängigen Kombilohnmodellen (dem Earned Income Tax Credit, dem Working Tax Credit und dem Prime pour l´emploi), die im übrigen allesamt als Ergänzung zu gesetzlichen Mindestlöhnen praktiziert werden, nicht nachweisbar. In Großbritannien ist die Einführung des gesetzlichen Mindestlohns 1999 gerade auch damit begründet worden, dem betrieblichen Lohndumping zu Lasten der Sozialkasse Einhalt zu gebieten.[6] In Deutschland existieren bereits mit den über sechs Mio. Minijobs, bei denen Sozialbeiträge zum Teil und Steuern entfallen, und mit der Hartz-IV-Aufstockung flächendeckende Kombilöhne, deren Verdrängungswirkungen evident sind. Allgemeine unbefristete Kombilöhne sind ein ordnungspolitischer Kardinalfehler, eine marktwirtschaftliche Absurdität. Damit wird ein Instrument, das für eng begrenzte Zielgruppen mit spezifischen Einschränkungen sinnvoll sein kann – etwa als befristete Einstiegshilfe für Ältere und Langzeitarbeitslose – aus durchsichtigen Interessen verallgemeinert. In keinem der – nicht wenigen – bisher in Deutschland erprobten Kombilohnmodelle konnte eine nennenswerte, im Saldo positive Beschäftigungswirkung gesichert werden, schon weil der Verdrängungseffekt auf andere Firmen kaum erfassbar ist. Einzig dann, wenn keine unsubventionierte Arbeit verdrängt wird, sind Kombilöhne vertretbar, etwa im öffentlichen Sektor, bei sozialen Diensten und gemeinnützigen Service-Angeboten wie verlängerten Öffnungszeiten für Bibliotheken, Museen und Bäder, dank deren das Gemeinkapital ausgiebiger genutzt werden kann; eventuell auch bei Haushaltsdienst- und Pflegeleistungen, die sozial wünschenswert und ansonsten für die Betroffenen nicht erschwinglich sind, auf keinen Fall aber auf dem ersten Arbeitsmarkt. Dort erschöpfen sie sich rasch in bloßen Verdrängungseffekten. Doch genau das verlangt jener Sachverständigenrat, den man einst als den der „fünf Weisen“ bezeichnet hat: „Folglich ist der gleichzeitige Bezug von nicht existenzsicherndem Erwerbseinkommen und Arbeitslosengeld II eben keine unerwünschte, durch eine nachjustierende Politik zu behebende Begleiterscheinung, sondern entspricht dem Zweck dieser Leistung und ist sogar Ausweis ihres Erfolges, wenn sie Personen den Weg zu einer, wenn auch niedrig vergüteten Tätigkeit auf dem ersten Arbeitsmarkt ebnet.“[7] Von jedem ABM-Job war doch stets mit Selbstverständlichkeit verlangt worden, dass er keine Normaljobs verdrängt. Wenn man junge Menschen mit Staatshilfe aus der Arbeitslosigkeit holen will, wofür es sozial zwingende Gründe gibt, so muss man das, sofern es mittels Lohnsubventionen erfolgt, im öffentlichen Sektor oder mit sehr eng befristeten Einstiegshilfen zu organisieren.
Existenzangst trotz Vollzeitjob
Warum, zum Teufel, soll der Staat das Haareschneiden subventionieren, die Hotelübernachtung oder den Firmen das Fensterputzen? Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung hat aktuell dargetan, dass „niedrige Löhne keineswegs weit verbreitet sind. Insbesondere gibt es nicht viele Vollzeitbeschäftigte (3 Prozent), die einen Bruttolohn von weniger als 7,50 Euro bekommen und in deren Haushalten keine weiteren Erwerbseinkommen anfallen“.[8] Auf das „und“ kommt es an. Wenn jemand trotz Vollzeitjob nicht von seiner Arbeit überleben kann, sondern nur dank der Unterstützung aus der Restfamilie irgendwie durchkommt, gilt das offenbar als sozial und ökonomisch akzeptabel. Dass Wachleute der Firmen und Leih- und Zeitarbeiter aller Art von den Verwandten bezuschusst werden müssen, mithin hier eine „Subventionierung“ von privat erfolgt, erregt offenbar keinen Anstoß. Immerhin 4,4 Millionen arbeiten mit einem Stundenlohn unterhalb von 8 Euro, 3,7 Mio. unterhalb von 7,50 Euro.[9] In Ostdeutschland ist bereits jeder Fünfte so miserabel entlohnt.[10] 7,50 Euro – das entspricht netto gerade noch der Stütze nach Hartz IV. 1,4 Millionen Vollzeitkräfte sind betroffen. Früher galt die Norm, jemand müsse von einem Vollzeitjob eine Familie ernähren können. Heute dürfen die Firmen unterstellen, dass Vollzeitkräfte von den Familien miternährt oder eben vom Staat mittels Kombimodellen unterstützt werden. Was da pro Stunde gezahlt wird – Tarifverträge der IG Metall über 3,86 Euro brutto für das Sanitär- und Heizungshandwerk und über 3,06 Euro von Ver.di für das Friseurhandwerk in Sachsen sowie die 1,80 Euro für Zimmermädchen in einem großen Hamburger Hotel – markieren die derzeit bekannten Tiefpunkte. Dergleichen kann nicht mehr als Entlohnung bezeichnet werden, sondern nur noch als mageres Trinkgeld, als Bakschisch. Doch Kinderlohn zieht Kinderarbeit nach sich. Zwei Zitate aus einer Untersuchung der Input Consulting Stuttgart in der PIN-Branche illustrieren die soziale Realität in diesen Firmen: „bei den Fahrern, da kriegst du oft mit, dass da die Kinder mithelfen, also zehnjährige Kinder und […] schwere Kisten schleppen […].Und wo dann der Vater sagt, alle müssen zusammen helfen, sonst langt es nicht“. Und weiter: Da ist „auch so eine arme Frau, die […] von morgens um sieben bis abends um Viertel acht arbeiten muss und trotzdem nicht genug Geld hat […] und dann noch drei Kinder hat […] das ist wie vor hundert Jahren.“[11] Ursache des Absturzes von Reallöhnen und des für Mitteleuropa neuen Phänomens der Working Poor ist evident die Arbeitslosigkeit und keineswegs eine vermeintlich schwache Produktivität und auch kaum die Entscheidung von Kunden.[12] Denn der Arbeitsmarkt ist eben noch von anderen Gesetzmäßigkeiten bestimmt als der Markt für Äpfel oder Fischfilets. Gewiss wirken sinkende Löhne auf sinkende Preise hin und stimulieren auch die Nachfrage nach einfachen Dienstleistungen. Doch dem überlagern sich zwei andere Mechanismen: Der erste ist der bekannte Kaufkraftzusammenhang. Die Löhne bilden den größten Teil der Endnachfrage einer Volkswirtschaft. Sinkt der Lohn, verschlechtert sich mit der Kaufkraft die Auftragslage von Unternehmen. Sie brauchen deshalb weniger Arbeitskräfte. Ebenso wie kein Unternehmer sich Maschinen kauft, die er nicht braucht, auch wenn sie hoch subventioniert werden, so heuert er auch keine Arbeitskräfte an, die er wegen Auftragsmangel nicht braucht, unabhängig von deren Lohn. Er tauscht allenfalls welche aus. Insofern sinkt bei fallendem Lohn die Nachfrage nach Arbeitskräften, anstatt zu steigen. Zum zweiten haben die Menschen einen Mindestbedarf an Geld. Das muss keineswegs bereits ein Lohn am Subsistenzniveau sein, ein Hungerlohn, der gerade so das Überleben sichert. Denn sie haben vielleicht Hypotheken am Hals, eine Ausbildung von Kindern mitzuzahlen, wollen ab und an ins Kino gehen, den Freunden weiter imponieren und dergleichen mehr. Sinkt ihr Einkommen unter diesen Mindestbedarf, so werden sie versuchen, durch Zusatzarbeit mehr zu verdienen. Insofern steigt bei sinkenden Löhnen das Angebot an Arbeitskräften, statt zu sinken. Es entsteht insofern ein inverser Preis-Angebots-Zusammenhang. Beides – sinkende Nachfrage nach Arbeitskräften seitens der Unternehmen bei sinkender Kaufkraft und Endnachfrage sowie ein steigendes Angebot an Arbeitskräften wegen sinkendem Lohn – kann den gemeinhin bei allen Waren wirkenden Preis-Nachfrage-Angebots-Mechanismus überkompensieren und wegen des wachsenden Überangebotes an Arbeitskräften zu einem sich selbst verstärkenden Lohnverfall führen. Dieser wird keineswegs bei irgendeinem Niveau zu einem Gleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt führen und damit zum Stillstand kommen.
Wie misst man die Produktivität einer Hebamme?
Bekanntlich hatte in England der rasante technische Fortschritt mit rapide steigender Produktivität im 19. Jahrhundert über die einsetzende Massenarbeitslosigkeit zu einem Lohnverfall bis unter das Existenzminimum geführt. Gefolgt von Kinderarbeit und einem solchen physischen Verfall der unterernährten Menschen, dass die Tauglichkeitsstandards bei den Musterungen wiederholt abgesenkt werden mussten, um die britische Armee noch füllen zu können. Schließlich griff der Staat ein und konnte erst mit Fabrikinspektoren das Überleben der Bevölkerung absichern. Im Deutschen Reich waren die Löhne für Arbeiterinnen infolge freier Lohnkonkurrenz und eines Überangebots an Arbeitskräften schließlich so niedrig, dass ohne Zusatzverdienst kaum ein Auskommen war. So vermerkt eine von den Bundesregierungen 1887 in Auftrag gegebene Untersuchung über die Lebensverhältnisse in der Wäsche- bzw. Konfektionsbranche für Posen: „Die Wohnverhältnisse sind je nach den Nebeneinkünften aus der Prostitution besser oder schlechter.“ Für Erfurt wurde berichtet: „Soweit die Näherinnen einen unsittlichen Lebenswandel führen, dürften sie hierzu vornehmlich durch ihren geringen Verdienst veranlasst werden.“ So wurde damals auch von bürgerlichen Sozialreformern konstatiert, dass jeder Lohnkampf zugleich eine Sittlichkeitsbewegung sei. Und um 1900 hatten die erzgebirgischen Spielzeugschnitzer ihr Einkommen gegenseitig so weit herunter konkurriert, dass schließlich auch ein Arbeitstag der gesamten Familie von 20 Stunden nicht mehr ausreichte, um auch nur genug Brot kaufen zu können. Der Preisverfall hatte damals eben kaum einen Anstieg der Nachfrage nach sich gezogen. Nach Untersuchungen der Europäischen Kommission waren schon im Jahr 2000 die Löhne im Gastgewerbe, gemessen am nationalen Lohnniveau, in Deutschland so niedrig wie nirgendwo sonst in der Europäischen Union und den Beitrittskandidaten.[13] Doch der Sachverständigenrat erklärt „eine weitere Spreizung der qualifikatorischen Lohnstruktur“ zur „unabdingbaren Voraussetzung für dringend benötigte neue Arbeitsplätze für Problemgruppen auf dem Arbeitsmarkt, denen mit einem Kombilohn geholfen werden soll.“ Denn „Arbeitsplätze entstehen und bleiben nur erhalten, wenn die Arbeitskosten nicht höher sind als die auf ihnen erwirtschaftete Produktivität.“[14] Und: „Es kann den Leuten doch egal sein, zu welchem Prozentsatz der Staat und zu welchem Prozentsatz der Arbeitgeber das Einkommen finanziert. Hauptsache, die Summe stimmt und die Stellen sind da“[15], so Hans-Werner Sinn, für den die Forderung „Jeder muss von seiner Hände Arbeit leben können!“ „der dümmste Spruch des Jahres“ ist.[16] Nicht jeder Talk-Show- und Bildzeitungs-Ökonom verfügt halt über soziale Sensibilität. Es hat etwas mit menschlicher Würde zu tun, mit Selbstwertgefühl und mit dem Bewusstsein, sozial integriert zu sein oder nicht, ob man sein Einkommen als Lohn oder als Stütze bekommt. Dieser Unterschied ist für fast jedermann fundamental. Zur sozialen Brutalität gesellen sich die wettbewerbsverzerrenden Wirkungen einer jeden Subvention sowie die Belastungen der Öffentlichen Hände zugunsten von Firmen, denen keineswegs eine besondere Nähe zum Gemeinwohl zu unterstellen ist. Und nicht zuletzt werden die Aufstockungen im Kombilohn denen nicht zugute kommen, die durch Unkenntnis oder Scham von der Stütze abgehalten werden. „Was, wenn es keine Möglichkeit gibt, die Arbeitslosen ohne Zuschüsse in Lohn und Brot zu bringen? Wenn die Produktivität der Stellen, die man vielleicht noch schaffen könnte, und der Menschen, die sie dann bekleiden würden, zu klein ist, als dass sich daraus ein auskömmlicher Lohn finanzieren ließe?“, so fragt Hans-Werner Sinn weiter.[17] In der Schweiz zahlen die privaten Postdienste ihren Briefträgern durchweg mehr als 2000 Euro. Sind diese dort im oft gebirgigen Terrain wirklich um soviel produktiver als Briefträger in Der Bundesrepublik? Der Sachverständigenrat freilich sieht im Post-Mindestlohn nur „die Abwehr unliebsamer Konkurrenz“. Die Bundesregierung habe sich „vor den Karren von Partikularinteressen spannen“ lassen.[18] Doch dank welcher innovativen Durchbrüche sind Fleischer in Dänemark um ein Mehrfaches leistungsfähiger als ihre deutschen Kollegen, wie das ja nach ökonomischer Orthodoxie aus den Lohnverhältnissen abzulesen wäre? Wie denn misst man die Produktivität einer Hebamme, eines Notars, einer Erzieherin, eines Geistlichen und einer Hausfrau oder die eines Ministerialrates? Am Lohn doch wohl kaum. Der ist eher bestimmt von Tradition und Konvention, von Angebot und Nachfrage und vor allem von Verbandsmacht.
Weltmarktkonkurrenz im Gaststättengewerbe?
Seit langem schon lebt Deutschland mit einer schier unüberblickbaren Vielfalt von Mindestlöhnen. Die HOAI, die Honorarordnung für Architekten und Ingenieure, hat quasi Gesetzescharakter. Sie eliminiert die Arbeitskostenkonkurrenz in einem weiten Feld von Dienstleistungen in toto. Bis auf den Euro genau sind die Preise vorbestimmt und einklagbar. Die Zahl der Anwälte hat sich binnen zwei Jahrzehnten etwa verdoppelt. Doch deren Honorar ist dank Gebührenordnung und, seit 2004, dank Rechtsanwaltsgebührengesetz wettbewerbsresistent. (Zumindest die Preise der außergerichtlichen Leistungen sind seit 2006 nicht mehr vorgeschrieben.) Der Notarberuf gilt als Lizenz zum Gelddrucken. Ob GOÄ für Ärzte, GOH für Heilpraktiker, GOZ für Zahnärzte, GOP für Psychotherapeuten, ob Steuerberater oder Schornsteinfeger – durch Angebot und Nachfrage nicht antastbare Preise sind hier garantiert. Fast durchweg sichern sie damit den Lebensstandard von ständepolitisch stark organisierten Besserverdienenden. Bisweilen mag diese Ausschaltung von Arbeitskostenkonkurrenz berechtigt sein. Nur warum sie gerade dann in die wirtschaftliche Katastrophe führen soll, wenn es nicht um Topeinkommen und Absicherung von Luxus geht, sondern um ein überlebensfähiges Lohnniveau, dass ist nicht nachvollziehbar. Die Globalisierung sei es, die Gnadenlosigkeit der Weltmärkte, die chinesische Billiglohnkonkurrenz, die uns zu Löhnen unterhalb des Überlebensnotwendigen zwinge, so die insistierende Botschaft der Talk-Show-Ökonomen. Doch Jahr für Jahr meldet die deutsche Handelsbilanz einen neuen Rekord. Noch nie in der Weltwirtschaftsgeschichte sind größere Exportüberschüsse registriert worden als gegenwärtig für Deutschland. Auch für 2007 übertrifft unser Exportüberschuss vermutlich [gibt’s inzwischen schon sicherere Zahlen?] den Chinas. Jobverluste durch Produktionsverlagerungen werden von wachsenden Exporten überkompensiert, was freilich den konkret von Verlagerungen Betroffenen vor Ort kaum etwas nutzt. Doch in keiner anderen Nation des Westens mit Ausnahme Portugals bietet die Industrie einen größeren Anteil der Arbeitsplätze und in keiner anderen großen Nation ist sie derart exportorientiert. Dabei zahlen die deutschen Exportbranchen die höchsten Löhne im Lande, sieht man ab von den durch Ständepolitik verbarrikadierten Dienstleistungen [das ist hier nicht ganz klar, oben stehen die ständischen Gebührenordnungen für die Besserverdienenden; hier steht sie wofür?], der Finanz- und der Versicherungsbranche. Die Hungerlohnbranchen, um die es bei der gegenwärtigen Mindestlohndebatte geht, sind hingegen durchweg nicht weltmarktexponiert. Es sind inländische Dienstleistungen, bei denen durch Immigranten und Schwarzarbeit, vor allem jedoch durch ein Überangebot an deutschen Arbeitssuchenden knallhartes Lohndumping herrscht. Und der Staat soll mit Subventionen deutsche Dumpinglöhne ermöglichen. (Der Begriff „Dumping“ bezeichnet Preise unter den Entstehungskosten und exakt das ist bei Löhnen unter dem Existenzminimum der Fall.) Was für ein ordnungspolitischer, marktfeindlicher Irrsinn führt hier die Feder? Zugleich werden die Apologeten von Kombilöhnen nicht müde, Steuersenkungen und niedrige Lohnnebenkosten einzufordern. Eine Staatsmacht erbringt gemeinhin ordnende und materielle Leistungen. Erstere kosten wenig, letztere viel. Nach klassischem Denken ist die Qualität eines Staatswesens daran zu messen, inwieweit es aufgrund seiner Fähigkeit zum Regulieren auf materielle Leistungen und Interventionen verzichten kann. „[…] ist es der Zweck jeder Regierung, Regierung überflüssig zu machen“, so einst Johann Gottlieb Fichte. Sie hat das Gemeinwesen in einen solchen Zustand der Selbststeuerung zu bringen, dass sie kaum noch einzugreifen braucht. Je schlechter sie regiert, desto mehr muss sie intervenieren und kompensieren, desto mehr Geld benötigt sie, um Schäden und Fehlentwicklungen auszugleichen. Das ist letztendlich und seit jeher auch das Credo eines guten Liberalismus. Was hier und heute die ansonsten Marktradikalen und deren Sachverständige verlangen – staatlich bezuschusste Löhne in einer Marktwirtschaft – das ist das schiere Gegenteil. Einige medial omnipräsente Sachverständige laufen nur dann Sturm gegen Subventionen, wenn diese nicht in die Kassen der Firmen fließen. Hier wird zur Durchsetzung von Partikularinteressen mit dem Renommee wissenschaftlichen Expertentums Schindluder getrieben. Kombilöhne sind beschäftigungspolitisch im Saldo wirkungslos und fiskalisch ein Multimilliardengrab. Mindestlöhne hingegen kosten den öffentlichen Händen keinen Cent. Sie sind ordnungspolitisch geboten und in allen vergleichbaren Volkswirtschaften gang und gebe. [1] „Westdeutsche Allgemeine Zeitung“, 12.1.2008 [2] „Bild am Sonntag“, 13.1.2008. [3] Ifo-Schnelldienst-Vorab, 1/2008. [4] Vgl. Hans-Werner Sinn, Ist Deutschland noch zu retten? Berlin 2005, hier: S.112 ff., 165 ff. [5] Berechnung des Wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Instituts des DGB nach telefonischer Auskunft. [6] Gerhard Bosch und Claudia Weinkopf, Mindestlöhne in Großbritannien – ein geglücktes Realexperiment, in: „WSI-Mitteilungen“, 3/2006, S. 125 ff. [7] Jahresgutachten 2007/2008 des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Ziff. 529, Bundestagsdrucksache 16/7083. [8] Zit. n. „DIW Wochenbericht“, 4/2008, S. ?. [9] Ebd., S. 35; Stand 2006, ohne Auszubildende und Ein-Euro-Jobber. [10] Institut für Wirtschaftsforschung Halle, Presseerklärung, 25.1.2008. [11] Input Consulting GmbH Stuttgart, Beratungsgesellschaft für Innovationstransfer Post und Telekommunikation, Liberalisierung und Prekarisierung – Beschäftigungsbedingungen bei den neuen Briefdienstleistern in Deutschland, ORT 2006 [12] „Das entscheidet doch der Kunde, was er zahlt.“, so Guido Westerwelle in der ARD-Talk-Show zum Mindestlohn am 13.1.2008. Doch der Kunde entscheidet nur marginal den Preis. Er zahlt im Regelfall so wenig wie möglich. [13] Europäische Kommission, Beschäftigung in Europa 2003, S.89. [14] Jahresgutachten des Sachverständigenrates 2006, Bundestagsdrucksache 16/3450, S. 402, Ziff. 547. [15] „Westdeutsche Allgemeine Zeitung“, 13.1.2008 [16] „Süddeutsche Zeitung“, 28.12.2007 [17] Ebd. [18] Jahresgutachten des Sachverständigenrates 2007, Ziff. 557 und 561.
Mowitz meint
Alles ehemalige Staats- und Volkseigentum wird den Weg der Privatisierung gehen.
Dieser, als Privatisierung deklarierte, von den Politikern geförderte Raub am Staats- und Volksvermögen ist in seiner Wirkung auf lange Sicht schlimmer, als die Demontage durch die Siegermächte der Weltkriege.
Nach Telekom, Post und Bahn, nach den Stromversorgern und Gaswerken stehen jetzt die Autobahnen, die Universitäten, die Rathäuser, die Krankenhäuser, die Wälder und Brachflächen, die Wasserwerke, die Kasernen und Gefängnisse, ja selbst die Finanzämter zur Privatisierung an.
Alles was seit 1949 mit Steuergeldern aufgebaut, gepflegt und erhalten wurde, wird verramscht.
Wenn der Bürger danach noch Leistungen verlangt, zahlt er eben keine Steuern mehr zur Finanzierung, sondern Preise. Preise, in denen Gewinne enthalten sind.
Und diese Preise für privatwirtschaftliche „Monopol“-Leistungen sind auf lange Sicht eine schlimmere Belastung als die Reparationszahlungen an die Sieger- und andere Mächte nach den beiden Weltkriegen.